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Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens

Titel: Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Wahrheit und Gefühl.
    »Bestehen Sie noch darauf, ihn zu wecken?« fragte Daumer richterlich. »Der Schlaf ist heilig.Die seligen Geister werden fliehen, sobald unsre Hand ihn berührt.«
    Frau Behold klappte die Lider auf und zu, als wolle sie das bißchen Rührung davonjagen, wie man Fliegen mit einem Wedel vertreibt. »Schön gesagt,« spottete sie, und ihre Stimme surrte wie das Rädchen einer Spindel. »Aber ich bestehe auf meinem Schein. Ich will dem Buben was dafür schenken, und was die seligen Geister betrifft, die kommen wieder, zum Schlafen gibt’s Nächte genug.«
    Während Daumer den Schlafenden bei den Schultern emporhob und durch zärtliches Zureden mehr sich selbst als Caspar zu beschwichtigen schien, zeigte sich in dem kleinen Gesicht der Frau Behold eine wunderliche Erregung. Sie blinzelte mit den Augen, ihre Unterlippe wurde schlaff und entblößte eine schmale, feste Zahnreihe wie bei einem Nagetier.
»Pauvre diable,«
murmelte sie, »armes Herzle,« und erfaßte Caspars Hand.
    Davon erwachte Caspar völlig, befreite die Hand mit einem Ruck und schüttelte sich. Sein trunken-müder Blick fragte, was man mit ihm vorhabe, Daumer erklärte es, schenkte Wasser in ein Glas und gab es ihm zu trinken, nahm den Sonntagsrock, der schon bereitlag, und hielt ihn zum Anziehen hin.
    Caspar heftete den verdunkelten Blick auf Frau Behold und sagte trotzig: »Ich will nicht zu der Frau.«
    »Wie, Caspar?« rief Daumer erstaunt und verletzt. Zum erstenmal vernahm er dies »ich will nicht«, zum erstenmal stand Caspars Wille gegen ihn auf. Caspar war selber erschrocken, sein Blick war schon wieder gefügig, als Daumermit ernsthaftem Ton fortfuhr: »Ich aber will es. Ich will auch, daß du die Dame um Verzeihung bittest. Es geht nicht an, daß du eine Laune über dich Herr werden läßt. Wenn wir uns der Rücksichten gegen die Menschen entbinden würden, stünden wir alle so hilflos da wie du am ersten Tag.«
    Mit niedergeschlagenen Augen tat Caspar, was ihm befohlen worden. Frau Behold nahm den ganzen Auftritt nicht schwer. Sie tätschelte Caspars Wange und fand den Professor Daumer ziemlich komisch.
    Eine halbe Stunde später waren sie in den festlich erleuchteten Zimmern der Rätin. Caspar, von Menschen umdrängt, mußte die gewöhnliche Flut der Fragen über sich ergehen lassen. Frau Behold wich nicht von seiner Seite, sie lachte beinahe zu allem, was er sagte, und er wurde allmählich verwirrt und unruhig, empfand Angst vor den Worten; es schien ihm gefährlich, zu sprechen, es war, als ob alle Worte zweifach vorhanden wären, einmal offenbar, das andre Mal verhüllt, und so wie die Worte hatten auch die Menschen etwas Zwiefaches, und unwillkürlich suchten seine Blicke in ein und derselben Person die zweite, die lauernd hinterherging und verführerisch mit dem Finger winkte.
    Es war ihm unverständlich, was sie von ihm wollten, ihre Kleidung, ihre Gebärden, ihr Nicken, ihr Lächeln, ihr Beisammensein, alles war ihm unverständlich, und auch er selbst, er selbst fing an, sich unverständlich zu werden.
    Indessen verlebte Daumer eine böse Stunde. Frau Behold, die stolz darauf war, ihr Haus zum Sammelort vornehmer Fremden zu machen,hatte heute einen Herrn zu Gast, der, wie man sich erzählte, unter falschem Namen reiste, da er in wichtiger diplomatischer Mission nach einer Residenz im Osten des Landes unterwegs sei. Man raunte sich auch zu, daß der hohe Fremde großes Interesse an dem Findling Hauser nehme und daß er vielen einflußreichen Personen gegenüber sich abfällig und tadelnd über die unsinnigen Gerüchte geäußert habe, die Caspars Herkunft zum Gegenstand hatten. Und man muß gestehen, daß die einflußreichen Personen sich dem Gewicht einer solchen Meinung nicht verschlossen, aber das Treiben des vornehmen Herrn gab auch Anlaß zu mancherlei Verdacht, und der Redakteur Pfisterle, Querulant wie immer, behauptete sogar, der diplomatische Herr sei nach seiner Ansicht nichts andres als ein verkappter Spion.
    Wie dem auch war, von all diesen Neuigkeiten hatte Daumer in seiner Weltverlorenheit nichts erfahren. Der Fremde gesellte sich nach kurzer Weile zu ihm, und sie kamen ins Gespräch, wobei es jener leicht anzustellen wußte, daß sie sich von den übrigen Gästen absonderten. Daumer, eingeschüchtert durch die Manieren, die delikate Zwanglosigkeit des hohen Herrn, dessen Rockbrust voller Orden hing, wußte zuerst kaum etwas zu sagen, antwortete bloß wie ein Schüler mit nein und ja.

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