Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Teilnahme für Caspar hegten, kam zufälligerweise die Rede auf das Geschenk, das der Präsident seinem Schützling gemacht, und da Daumer erzählte, es befände sich in dem Büchlein ein sehr gutes Stahlstichporträt des Präsidenten, wünschten die Damen das Heft gern zu sehen. Zu aller Erstaunen weigerte sich Caspar, es zu zeigen. Daumer warf ihm erschrocken seine Unhöflichkeit vor, aber er blieb hartnäckig. Die Damen bestanden nicht weiter darauf, ja sie lenkten sogar die Unterhaltung taktvoll in eine andre Richtung, aber als sie fortgegangen waren, nahm Daumer den Jüngling ins Gebet und fragte ihn nach dem Grund seiner Weigerung. Caspar schwieg. »Und würdest du auch mir, wenn ich es verlangte, das Heftchen vorenthalten?« fragte Daumer. Caspar sah ihn groß an und antwortete treuherzig: »Sie werden es gewiß nicht verlangen, bitte schön!«
Daumer war sehr betroffen und entfernte sich still.
Gegen Abend kam Herr von Tucher, bat Daumer um eine Unterredung unter vier Augen, und als sie allein waren, sagte er ohne weitereEinleitung: »Ich muß Sie leider davon in Kenntnis setzen, daß ich unsern Caspar zweimal beim Lügen ertappt habe.«
Daumer schlug stumm die Hände zusammen. Das fehlte nur noch, dachte er.
Beim Lügen! Zweimal beim Lügen ertappt! Ei du gütiger Himmel, wie war das zugegangen!
Die Sache verhielt sich so: Am Sonntag sei er mit dem Bürgermeister in Caspars Zimmer getreten, erzählte Herr von Tucher, und habe den Jüngling ersucht, ihn in seine Wohnung zu begleiten. Da habe Caspar, der bei den Büchern gesessen, erwidert, er dürfe nicht, Daumer habe ihm verboten, das Haus zu verlassen. Dem Bürgermeister sei das gleich bedenklich erschienen, besonders da ihn Caspar kaum anzusehen gewagt, er habe sich unauffällig bei Daumer erkundigt, wie dieser sich wohl erinnern werde, und seinen Verdacht bestätigt gefunden. Am andern Tag seien beide, Herr Binder und Herr von Tucher, während Daumer vom Hause fortgewesen, zu Caspar gekommen und hätten ihm seine Unwahrheit vorgehalten. Unter Erglühen und Erblassen habe er sein Vergehen zugestanden, habe aber, wie ein gescheuchter Hase in die Enge getrieben und den ersten besten Ausweg ergreifend, albernerweise eine Geschichte erfunden von einer Dame, die bei ihm gewesen und die ihm ein Geschenk versprochen, weshalb er auf sie gewartet habe.
»Auf unser mehr bestürztes als strenges Zureden bekannte er sich auch dieser Unwahrheit schuldig,« fuhr Herr von Tucher mit unerschütterlichem Ernst fort. »Er gab zu, daß er nur in Ruhe habe studieren wollen und daß ihm kein andres Mittel eingefallen sei, um die lästigenStörungen abzuwenden. Inständig flehte er uns an, Ihnen nichts von seinem Fehltritt zu erzählen, er wolle es nie wieder tun. Ich hab’ mir’s aber überlegt und bin zu dem Schluß gelangt, daß es besser ist, wenn Sie alles wissen. Es ist vielleicht noch Zeit, um das böse Laster mit Erfolg zu bekämpfen. Man kann ihm ja nicht ins Herz schauen, doch ich glaube noch immer an die Unverdorbenheit seines Gemüts, wenngleich ich überzeugt bin, daß uns nur die äußerste Wachsamkeit und unerbittliche Maßnahmen vor gröberen Enttäuschungen bewahren können.«
Daumer sah vollkommen vernichtet aus. »Und das von einem Menschen, auf dessen heiliges Wahrheitsgefühl ich Eide geschworen hätte,« murmelte er. »Wenn Sie es nicht wären, der mir das erzählt, ich würde lachen. Noch vor einer Stunde hätte ich jeden für einen Schurken erachtet, der mir gesagt hätte, Caspar sei einer Lüge fähig.«
»Auch mir ist es nahgegangen,« versetzte Herr von Tucher. »Aber wir müssen Geduld haben. Sehen Sie zu, halten Sie die Augen offen, warten Sie auf den nächsten gegründeten Anlaß, dann greifen Sie ein, und zwar mit wuchtiger Hand.«
Eine Lüge; nein, zwei Lügen auf einmal! Der arme Daumer, er wußte sich keinen Rat. Er ging hin und überlegte. Herr von Tucher nimmt den ganzen Vorgang zu schwer, sagte er sich; Herr von Tucher ist eine sehr gerechte Natur, aber ohne Zweifel ein Mann mit vielen Vorurteilen, die ihn dazu verführen, eine Lüge mit allen verfehmenden Zeichen der Übeltat auszustatten; Herr von Tucher kennt das tägliche Lebennicht, das unsereinen unterscheiden lehrt zwischen dem, was schlecht ist und was der Andrang gebieterischer Umstände auch dem Redlichsten entpreßt. Aber was geht mich Herr von Tucher an, hier handelt es sich um Caspar. Ich glaubte einst, von ihm fordern zu dürfen, was keiner sonst von keinem fordern
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