Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
Potential auszuschöpfen. Das war alles. Mir machte es nichts aus, dass die Zeremonie nichts Besonderes war, denn ich bin nicht wirklich ein Funktionär. Der bin ich nur nach außen, denn meine wahre Loyalität gilt der Erhebung.
Ein Mädchen in einem lilafarbenen Ballkleid eilt hinter uns den Bürgersteig entlang. Ich sehe ihr Spiegelbild in der Scheibe. Sie hält den Kopf gesenkt, als hoffe sie, dass wir sie nicht bemerken. Ihre Eltern folgen kurz darauf. Die drei sind unterwegs zur nächsten Airtrain-Haltestelle. Heute ist der Fünfzehnte, also findet heute Abend das Paarungsbankett statt. Es ist nicht einmal ein Jahr her, dass ich gemeinsam mit Cassia die Treppe zur Stadthalle hinaufgeschritten bin. Jetzt sind wir beide weit von unserer Heimat Oria entfernt.
Eine Frau öffnet die Haustür. Sie hält ihr kleines Baby im Arm. Ihm sollen wir seinen Namen geben. »Bitte treten Sie ein«, sagt sie. »Wir haben Sie schon erwartet.« Sie sieht müde aus, obwohl dies einer der glücklichsten Tage ihres Lebens sein sollte. Zwar wird das Thema in der Gesellschaft kaum diskutiert, aber hier in den Äußeren Provinzen ist das Leben härter. Es scheint, als konzentrierten sich die Ressourcen auf die Provinz Central und dünnten sich zu den Rändern der Gesellschaft hin immer weiter aus. Alles hier in Camas, einer der entlegensten Provinzen, ist irgendwie schmutzig und abgenutzt.
Nachdem sich die Tür hinter uns geschlossen hat, zeigt uns die Mutter den kleinen Jungen. »Er ist jetzt sieben Tage alt«, erzählt sie, obwohl wir das natürlich schon wissen. Deswegen sind wir hier. Die feierliche Namensgebung findet immer genau eine Woche nach der Geburt statt.
Das Kind hält die Augen geschlossen, doch wir wissen, dass sie tiefblau sind. Das steht in unseren Daten. Haarfarbe: braun. Wir wissen auch, dass er zum errechneten Termin geboren wurde und sich unter der fest gewickelten Decke zehn Finger und zehn Zehen verbergen. Die Gewebeprobe, die ihm nach der Geburt im medizinischen Zentrum entnommen wurde, war exzellent.
»Sind Sie bereit?«, fragt Funktionär Brewer, der von uns den höchsten Rang hat. Wie immer schwingt in seiner Stimme genau die richtige Mischung von Wohlwollen und Autorität mit. Er hat das schon Hunderte Male gemacht. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob Funktionär Brewer der Steuermann sein könnte. Es würde jedenfalls zu ihm passen, und er ist sehr diszipliniert und effektiv. Doch jeder könnte der Steuermann sein.
Die Eltern nicken auf Brewers Frage hin.
»Laut unseren Unterlagen fehlt ein Geschwisterkind«, bemerkt die Zweithöchste, Funktionärin Lei, mit ihrer sanften Stimme. »Möchten Sie, dass Ihr Sohn bei der Zeremonie anwesend ist?«
»Er war nach dem Essen so müde«, antwortet die Mutter entschuldigend. »Er konnte kaum noch die Augen offen halten, da habe ich ihn schon zu Bett gebracht.«
»Aber das ist doch völlig in Ordnung«, beruhigt sie Funktionärin Lei. Da der kleine Junge erst knapp über zwei Jahre alt ist – wobei zwei Jahre als der ideale Abstand zwischen Geschwistern gelten –, ist seine Anwesenheit nicht erforderlich. Er würde sich später wahrscheinlich ohnehin nicht an das Ereignis erinnern.
»Welchen Namen haben Sie ausgewählt?« Funktionär Brewer nähert sich dem Terminal in der Diele.
»Ory«, sagt die Mutter.
Funktionär Brewer gibt den Namen ein, und die Mutter dreht das Baby dem Bildschirm zu. »Ory«, wiederholt Funktionär Brewer. »Und als zweiten Vornamen?«
»Burton«, sagt der Vater. »Das ist in unserer Familie so üblich.«
Funktionärin Lei lächelt. »Was für ein hübscher Name!«
»Schauen Sie sich mal an, wie es aussieht«, fordert Funktionär Brewer die Eltern auf, und diese nähern sich, um sich den Namen des Babys anzusehen: ORY BURTON FARNSWORTH. Unter dem Schriftzug verläuft der Barcode, den die Gesellschaft ihm zugeteilt hat. Wenn er ein planmäßiges Leben führt, wird die Gesellschaft nach seinem Tod mit diesem Barcode auch die letzte Gewebeprobe markieren, die auf seinem Abschiedsbankett entnommen wird.
Aber so lange wird es die Gesellschaft nicht mehr geben.
»Falls Sie keine Änderungswünsche haben«, sagt Funktionär Brewer, »schicke ich ihn jetzt ab.«
Mutter und Vater überprüfen noch einmal den Namen. Die Mutter lächelt und hält das Baby noch ein wenig näher vor den Bildschirm des Terminals, als könne es seinen eigenen Namen lesen.
Funktionär Brewer sieht mich an und sagt: »Funktionär Carrow, Zeit für die
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