Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
mir Kraft verleihen – meine Gedanken, die kleinen Steine meiner eigenen Wahl. Sie kullern mir durch den Kopf: klein, manche glattpoliert vom vielen Rollen, andere neu und rau, manche schmerzhaft kantig.
Zufrieden darüber, dass man die Gedichte nicht sehen kann, gehe ich den Flur zu meinem winzigen Apartment entlang und betrete die Diele. Ich will gerade die Tür schließen, als von draußen jemand anklopft. Erschrocken weiche ich zurück. Ein Besucher, um diese Zeit? Wie viele andere, die schon gepaart wurden, aber noch keinen Ehevertrag geschlossen haben, lebe ich allein in meiner winzigen Wohnung, und wie auch früher in unserem Viertel, wird es auch hier nicht gern gesehen, wenn wir einander besuchen.
Vor der Tür steht eine Funktionärin. Sie lächelt mich freundlich an. Merkwürdig – sie ist ganz allein. Normalerweise sind Funktionäre immer zu dritt unterwegs. »Cassia Reyes?«, fragt sie.
»Ja?«
»Bitte kommen Sie mit mir«, sagt sie. »Sie werden im Sortierzentrum gebraucht und müssen Überstunden leisten.«
Aber ich wollte mich doch heute Abend mit Ky treffen! Es schien doch so, dass sich die Dinge für uns besserten – endlich sollte er nach Central fliegen, und die Nachricht, die er mir geschickt hatte, um mir mitzuteilen, wo und wann wir uns treffen konnten, erreichte mich rechtzeitig. Manchmal hatte es Wochen anstatt weniger Tage gedauert, bis ein Brief ankam, aber dieser war schnell gewesen. Widerwillig mustere ich die Funktionärin: weiße Uniform, säuberlich angebrachte Abzeichen, undurchdringliches Gesicht. Warum lasst ihr uns nicht in Ruhe? , frage ich mich im Stillen. Benutzt doch die Computer. Lasst sie die ganze Arbeit tun! Doch das würde einem der wichtigsten Grundsätze der Gesellschaft widersprechen. Nämlich dem, den sie uns von klein auf immer wieder erklärt haben: Technologie kann versagen, so ist es den Gesellschaften vor der unseren ergangen.
Plötzlich fällt mir das Ungewöhnliche an der Situation auf – ob es jetzt an der Zeit ist, die Aufgabe der Erhebung zu erfüllen? Ich betrachte die Funktionärin genauer, doch ihr Gesicht bleibt unbewegt und ruhig. Man sieht ihr nicht an, was sie weiß oder für wen sie tatsächlich arbeitet. »An der Airtrain-Haltestelle sind noch andere«, erklärt sie.
»Wird es lange dauern?«, frage ich.
Sie antwortet nicht.
Auf der Fahrt im Airtrain passieren wir den See, der dunkel in der Ferne liegt.
Niemand geht je dorthin. Der See ist noch aus der Zeit vor der Gesellschaft mit Umweltgiften belastet, und man kann nicht gefahrlos hineingehen oder daraus trinken. Die Gesellschaft hat die meisten Kais und Anlegestellen abgerissen, an denen die Leute vor langer Zeit ihre Boote liegen hatten. Doch bei Tageslicht sieht man noch drei gleich lange Stege nebeneinander, die übrig geblieben sind und wie Finger in das Wasser hineinragen. Vor Monaten, als ich den See das erste Mal gesehen habe, habe ich Ky von diesem Ort erzählt. Dass es ein guter Platz wäre, um sich zu treffen – ein Ort, den er von oben genauso gut finden kann wie ich von hier unten.
Jetzt kommt auf der anderen Seite des Airtrains die Kuppel der Stadthalle von Central in Sicht, wie ein zu naher Mond, der niemals untergeht. Unwillkürlich werde ich noch immer von Stolz erfüllt und höre im Geiste unsere Nationalhymne, wenn ich die vertrauten Umrisse einer Stadthalle sehe.
Doch auch die Stadthalle besucht niemand mehr.
Sie und die angrenzenden Gebäude sind von einer hohen weißen Mauer umgeben, die schon vor meiner Ankunft hier errichtet wurde. Renovierungsarbeiten sind der offizielle Grund. Schon bald würde die Sperrzone wieder geöffnet, heißt es.
Die Sperrzone fasziniert mich, vor allem, weil niemand weiß, aus welchem Grund sie wirklich errichtet wurde. Das, was auf der anderen Seite der Mauer ist, zieht mich an, und manchmal nehme ich nach der Arbeit einen kleinen Umweg in Kauf, um an der glatten weißen Oberfläche entlangzuspazieren. Jedes Mal denke ich daran, wie viele Bilder Ky und seine Mutter auf diese Mauer hätten malen können, die im leichten Bogen verläuft und in meiner Vorstellung einen perfekten Kreis bildet. Da ich nie ganz herumgegangen bin, kann ich mir dessen jedoch nicht sicher sein.
Bisher konnte mir auch niemand eine Antwort darauf geben, seit wann genau die Sperrzone existiert – irgendwann im Laufe des letzten Jahres muss sie entstanden sein. Keiner scheint sich daran zu erinnern, warum sie errichtet wurde, jedenfalls verrät es
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