Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
wusste, was man mit uns vorhatte.
»Wir behaupten einfach, du hättest anschließend gefehlt«, sagte der Mann. »Man hat dich einen Moment aus den Augen gelassen, und du hast dich entfernt, während die rote Tablette ihre Wirkung entfaltete. Später hat man dich dann gefunden.«
»Wie habe ich überlebt?«, fragte ich.
Der Mann tippte auf das Blatt Papier.
Ich hatte Glück. Von meiner Mutter habe ich gelernt, welche Pflanzen giftig sind. Ich habe nach Nahrung gesucht. Im November wachsen dort noch immer essbare Pflanzen.
Die Geschichte hat sogar einen wahren Kern. Die Lehren meiner Mutter haben mir tatsächlich geholfen zu überleben, allerdings in den kargen Canyons, nicht im Wald.
»Deine Mutter hat im Arboretum gearbeitet«, fuhr der Mann fort. »Und du kennst dich im Wald aus.«
»Stimmt«, sagte ich. Es war der Wald auf dem Hügel in Oria und nicht in Tana, aber vielleicht klang der Vorwand trotzdem glaubwürdig.
»Es passt also alles zusammen«, sagte der Mann.
»Solange mich die Gesellschaft nicht ins Kreuzverhör nimmt«, erwiderte ich.
»Das wird nicht geschehen«, entgegnete er. »Hier sind ein Silberetui und ein Tablettenbehälter als Ersatz für deine verlorenen Sachen.«
Ich öffnete die Pillendose. Eine grüne Tablette, eine blaue. Und eine rote natürlich, welche die ersetzen sollte, die ich angeblich auf den Befehl einer Funktionärin in Tana eingenommen hatte. Ich dachte an die anderen Mädchen, die die Tablette tatsächlich geschluckt hatten. Die meisten erinnerten sich jetzt nicht mehr an Indie und wie sie geschrien hatte. Sie war einfach verschwunden, genau wie ich.
»Denk daran!«, mahnte der Mann. »Du weißt nur noch, dass du auf einmal im Wald warst und nach Nahrung gesucht hast. Du hast alles vergessen, was wirklich in den letzten zwölf Stunden, bevor du an Bord des Luftschiffs gegangen bist, passiert ist.«
»Was soll ich tun, wenn ich in Central bin?«, fragte ich. »Man hat mir gesagt, ich könne der Erhebung am besten aus dem Inneren der Gesellschaft heraus dienen. Warum?«
Ich sah, wie mich der Mann forschend musterte, als frage er sich, ob ich der Aufgabe gewachsen sei, die mir zugedacht war. »Die Gesellschaft hat geplant, dich für deine endgültige Arbeitsstelle nach Central zu schicken«, sagte er. Ich nickte. »Du bist eine Sortiererin. Eine sehr gute, geht man nach den Daten der Gesellschaft. Jetzt, da dein Aufenthalt im Arbeitslager vorüber ist, weil du dort gute Arbeitsleistung gezeigt hast, werden sie froh sein, dich endlich einsetzen zu können. Die Erhebung kann daraus ihren Nutzen ziehen.« Dann erklärte er mir, welcher Sortiervorgang der entscheidende war und was ich tun sollte, wenn ich dabei eingesetzt wurde. »Du musst geduldig sein«, riet er mir. »Es kann eine Weile dauern.«
Das war ein guter Rat, denn bisher habe ich nichts Wichtiges sortiert. Jedenfalls ist mir nichts aufgefallen. Aber das macht mir nichts aus. Ich brauche die Erhebung nicht, um die Gesellschaft von innen zu unterwandern.
Wann immer ich kann, schreibe ich. Ich forme Buchstaben auf die unterschiedlichsten Arten: Aus Bündeln von langem Gras bilde ich ein K , zwei Stöcke lege ich zu einem X übereinander. Ihre feuchte Rinde hebt sich dunkel von der silbrigen Metallbank ab, die auf einer Grünfläche in der Nähe meiner Arbeitsstelle steht. Auf dem Boden bilde ich einen Kreis – ein O – aus Steinen, so wie ein geöffneter Mund. Und natürlich schreibe ich auch auf die Weise, die Ky mir beigebracht hat.
Überall halte ich nach schriftlichen Zeugnissen anderer Ausschau. Doch bisher scheint niemand außer mir das Schreiben erlernt zu haben und es anzuwenden, jedenfalls habe ich noch keine Anzeichen dafür entdeckt. Doch eines Tages wird es soweit sein. Vielleicht sitzt schon jetzt irgendwo jemand verborgen in seiner Wohnung und schwärzt mit Feuer Holzstöckchen an, wie Ky es früher getan hat, um den Namen eines geliebten Menschen zu schreiben.
Ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht die Einzige bin, die kleine Akte der Rebellion vollzieht. So mancher schwimmt gegen den Strom oder taucht darunter hindurch. Ich war diejenige, die aufgeblickt hat, wenn etwas Dunkles die Sonne verdeckte, und zugleich war ich der Schatten, der an dem schmalen Grat entlanggehuscht ist, wo Erde und Wasser den Himmel berühren.
Tag für Tag wälze ich den Stein, den mir die Gesellschaft aufgebürdet hat, den Hügel hinauf, immer und immer wieder. In meinem Inneren verbergen sich die wahren Dinge, die
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