Cassia & Ky – Die Flucht
ist?«
Der Junge schüttelt nur den Kopf. »Die da ist es«, beharrt er und deutet weiter auf die Schlucht vor uns. »Beeilt euch. Es dämmert bald.« Er redet leise und tonlos, und das überzeugt mich davon, dass er die Wahrheit sagt. Er ist viel zu müde, um zu lügen. »Der Feind hat heute Nacht nicht angegriffen. Unser Fehlen wird bemerkt und möglicherweise über Miniterminal gemeldet werden. Wir müssen in die Berge!«
»Komm mit uns!«, bitte ich.
»Nein«, erwidert er. Er blickt zu mir auf, und mir wird klar, dass er uns nur zum Überwinden der Strecke brauchte. Sie ist zu anstrengend, um sie allein zurückzulegen. Ab jetzt will er ohne uns weiter, warum auch immer. »Bitte!«, flüstert er.
Ich hole die Tabletten aus meinem Beutel. Als ich sie auswickle, mit steifgefrorenen Fingern, obwohl mir der Schweiß über den Rücken läuft, blickt er über die Schulter dorthin, wo sein Ziel liegt. Mir wäre lieber, er würde uns begleiten. Aber es ist seine Entscheidung.
»Hier«, sage ich und halte ihm die Hälfte der Tabletten hin. Er schaut die Blisterverpackungen an, auf deren Rückseite jede einzelne Tablette in ihrem Fach sorgfältig beschriftet ist. Blau. Blau. Blau. Blau.
Er fängt an zu lachen.
»Blau!«, sagt er und lacht noch lauter. »Lauter blaue.« Und dann, als hätte er die Farbe durch seine Worte zum Leben erweckt, bemerken wir gleichzeitig, dass der Morgen graut.
»Nimm dir welche«, sage ich und nähere mich ihm. Ich sehe gefrorenen Schweiß an den Spitzen seiner zu kurzen Haare, Frost an den Augenlidern. Er schaudert. Er sollte seinen Mantel anziehen. »Nimm welche«, wiederhole ich.
»Nein«, sagt er und stößt meine Hand weg. Die Tabletten fallen zu Boden. Ich schreie auf und gehe auf alle viere, um sie aufzusammeln.
Der Junge überlegt. »Na schön, vielleicht ein oder zwei«, sagt er, greift schnell zu und reißt zwei kleine Quadrate von einem Streifen ab. Bevor ich ihn daran hindern kann, wirft er mir den Rest zu, dreht sich um und läuft los.
»Ich habe auch noch andere!«, rufe ich ihm nach. Schließlich hat er uns geholfen, hierherzukommen. Ich könnte ihm die grüne geben, um ihn zu beruhigen. Oder die rote, damit er den langen, beschwerlichen Lauf und den Geruch seiner toten Freunde, als wir an dem verbrannten Dorf vorbeikamen, vergessen kann. Ich hätte ihm beide geben sollen. Ich öffne den Mund, um ihn noch einmal zu rufen, aber wir haben nicht einmal seinen Namen erfahren.
Indie hat sich nicht bewegt.
»Wir müssen hinterher!«, dränge ich. »Komm mit!«
»Nummer zehn«, sagt sie leise, was mir vollkommen sinnlos erscheint, bis ich ihrem Blick folge und an den Felsbrocken vorbeischaue. Was hinter ihnen liegt, wird jetzt sichtbar: die Canyons, ganz nah, und zum ersten Mal bei Licht.
»Oh«, flüstere ich. »Oh!«
Hier verwandelt sich die Welt.
Vor mir liegt ein Land der Schluchten, der Felsspalten und der Abgründe. Ein Land der Schatten und Schemen, der Höhen und Tiefen. Rot, blau und selten grün. Indie hat recht. Als der Himmel heller wird und ich die zerklüfteten Felsen und klaffenden Spalten betrachte, erinnern mich die Canyons an die Kopie des Gemäldes, die Xander mir geschenkt hat.
Aber diese Canyons sind Wirklichkeit.
Die Welt ist so viel größer, als ich geahnt habe!
Wenn wir in diese Berglandschaft mit ihren endlosen Gipfelketten und weitläufigen Tälern, ihren Felswänden und Höhlen eindringen, werden wir wie vom Erdboden verschluckt sein. Wir werden uns quasi in Luft auflösen.
Unwillkürlich denke ich an eine Unterrichtsreihe in der Höheren Schule zurück, noch bevor wir unsere Spezialgebiete wählten. Man zeigte uns Abbildungen von unseren Knochen und Körpern und machte uns klar, wie verletzlich wir seien, wie leicht wir ohne die Gesellschaft zerbrechen oder krank werden könnten. Ich erinnere mich daran, wie ich auf den Bildern sah, dass unsere Knochen mit rotem Blut und Mark gefüllt waren und wie ich dachte:
Ich wusste gar nicht, dass das in mir steckt.
Genauso wenig wusste ich, dass die Erde etwas Derartiges beherbergt. Das Felsmassiv wirkt so weit wie der Himmel, der es überspannt.
Ein perfektes Versteck für jemanden wie Ky. Eine ganze Rebellenbewegung hätte hier Unterschlupf finden können. Ich muss lächeln.
»Warte«, sage ich, als Indie die Felsblöcke hinunter- und in die Schlucht hineinklettern will. »Gleich geht die Sonne auf.« Begierig warte ich auf immer neue Eindrücke.
Doch Indie schüttelt den Kopf. »Wir müssen
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