Cassia & Ky – Die Flucht
rote Stoffstreifen in den Händen. Als ich die Geschichte beendete, hätte ich beinahe mehr verraten. Doch dann hat sie mich nach meiner Augenfarbe gefragt, und in diesem Moment spürte ich, dass Liebe viel gefährlicher – ja, rebellischer – ist, als alles andere je sein könnte.
Die Verse des Tennyson-Gedichts haben mich mein Leben lang begleitet. Doch in Oria, als ich sie aus Cassias Mund hörte, erkannte ich, dass sie kein Eigentum der Erhebung waren. Der Dichter hat sie nicht für sie geschrieben, sondern lange bevor die Gesellschaft überhaupt existierte. Dasselbe gilt auch für die Geschichte von Sisyphus – es gab sie schon Jahrhunderte bevor die Gesellschaft, die Erhebung oder mein Vater sie sich zu eigen machten.
Als ich in der Siedlung lebte und jeden Tag denselben Pflichten nachging, wandelte auch ich die Geschichte ab. Ich beschloss, dass es die Gedanken in unserem eigenen Geist sind, die mehr zählen als alles andere.
Daher habe ich Cassia nie erzählt, dass ich das zweite Gedicht bereits kannte oder dass es die Erhebung gibt. Wozu? Die Gesellschaft trachtete danach, sich zwischen uns zu stellen. Da konnten wir nicht noch etwas Zusätzliches gebrauchen. Die Gedichte und Geschichten, die wir miteinander teilten, konnten wir mit der Bedeutung füllen, die uns wichtig war. Wir konnten gemeinsam unseren eigenen Weg wählen.
Endlich finden wir Spuren der Anomalien: Eine Stelle, an der sie den Felsen zu erklettern pflegten. Der Boden am Fuß des Felsens ist mit kleinen blauen Sprenkeln übersät. Ich bücke mich und betrachte sie genauer. Im ersten Moment sehen sie aus wie die zerbrochenen Panzer wunderschöner Insekten. Blau und gequetschtes Violett darunter. Zerdrückt und vermischt mit rotem Lehm.
Dann erkenne ich, dass es Wacholderbeeren von dem Busch sind, der neben der Felswand wächst. Sie sind zu Boden gefallen und von Stiefeln zertrampelt worden, doch der Regen hat die Fußspuren verwischt. Mit einer Hand fahre ich über die Kerben im Fels und die Bohrlöcher für die Haken, mit denen die Anomalien ihre Kletterausrüstung gesichert haben. Die Seile sind verschwunden.
Kapitel 12 CASSIA
Während wir laufen, halte ich Ausschau nach Hinweisen darauf, dass Ky hier entlanggekommen ist. Aber ich finde keine. Keine Spuren, keine Zeichen menschlichen Lebens. Sogar die Bäume sind klein und verkrüppelt, und einer von ihnen trägt eine deutlich sichtbare dunkle Narbe genau in der Mitte. Auch ich fühle mich schwer getroffen. Obwohl der Junge, der uns zu den Canyons begleitet hat, die schweren Regenfälle in letzter Zeit erwähnt hat, hoffte ich trotzdem, auf Spuren von Ky zu stoßen.
Außerdem hoffte ich, Beweise für die Existenz der Erhebung zu finden. Schon will ich Indie fragen, ob sie schon einmal davon gehört hat, aber irgendetwas hält mich davon ab. Ich weiß ja auch gar nicht, wie so ein Zeichen für eine Rebellion aussehen könnte.
Im Tal verläuft ein kleiner Bach, gerade groß genug, dass Indie und ich unsere Feldflaschen hineintauchen können. Da wir uns noch im Dunkeln den Weg hineingebahnt haben, habe ich nicht bemerkt, wo der Bach begonnen hat, er war einfach plötzlich da. Treibholz liegt an sandigen Ufern, knochentrocken, angespült von einem breiteren Fluss in einer vergangenen Epoche. Die ganze Zeit versuche ich mir vorzustellen, wie die Landschaft von oben aussieht: ein schimmernder Silberfaden, aus einem Stoffmuster der Hundert Kleider gezogen, der sich durch die roten Felsen der Canyons inmitten der weiten Bergwelt schlängelt.
Von dort oben wären Indie und ich zu klein, als dass man uns erkennen könnte.
»Ich befürchte, wir sind in der falschen Schlucht«, sage ich zu Indie.
Indie antwortet zunächst nicht; sie bückt sich und hebt etwas Zartes, Graues vom Boden auf. Vorsichtig hält sie es in der Hand und zeigt es mir.
»Ein altes Wespennest«, stelle ich fest und betrachte die dünnen, papierartigen Hüllen, die sich ineinander und umeinander winden.
»Sieht aus wie eine Muschel«, meint Indie, öffnet ihren Rucksack und verstaut das verlassene Nest sicher darin. Dann fragt sie: »Willst du umkehren und es in einer anderen Schlucht versuchen?«
Ich denke einen Augenblick nach. Wir sind jetzt seit fast vierundzwanzig Stunden unterwegs und haben kaum noch Proviant. Unsere zwei Tagesrationen haben wir beinahe verzehrt, um uns nach dem langen Lauf zu den Canyons zu stärken. Ich möchte keine Tabletten verschwenden, indem ich umkehre, besonders, weil ich nicht
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