Cassia & Ky – Die Flucht
mehr sind. Der Wind pfeift hindurch, ein kalter Zug von Öffnung zu Öffnung.
»Das weiß man nie«, antwortet ein Junge mit abgespanntem Gesicht. »Das weiß man
nie
.« Er seufzt. »Wenn sie kommen, versteckt man sich am besten in den Kellern der Häuser. Hier im Dorf gibt es welche, in anderen Dörfern nicht.«
»Manche riskieren es aber lieber, hier oben zu bleiben«, sagt ein anderer Junge. »Ich mag die Keller nicht. Ich kann nicht klar denken, wenn ich da unten bin.«
Sie reden, als seien sie schon ewig hier, aber als ich mit der Taschenlampe den Boden beleuchte, erkenne ich, dass sie beide nur fünf oder sechs Kerben in den Stiefeln haben.
»Ich gehe raus«, sage ich nach einer Weile. »Das ist doch nicht verboten, oder?«
»Bleib im Schatten und schalte die Taschenlampe nicht ein«, rät mir der Junge, der nicht gerne im Keller ist. »Errege keine Aufmerksamkeit. Vielleicht fliegen sie gerade über uns hinweg und warten nur auf die richtige Gelegenheit.«
»Okay«, sage ich.
Indie schlüpft zur Tür herein, als ich gerade gehen will, und mir entfährt ein erleichterter Stoßseufzer. Sie ist nicht wieder weggelaufen. »Es ist wunderschön hier«, sagt sie fast im Plauderton, als sie ihre Schritte meinen anpasst.
Sie hat recht. Wenn man die Umstände einmal außer Acht lässt, ist diese Gegend wunderschön. Der Mond ergießt weißes Licht über die Betonbürgersteige, und ich entdecke den Jungen. Er ist vorsichtig und hält sich im Schatten, aber ich bemerke ihn. Als er mir plötzlich ins Ohr flüstert, erschrecke ich nicht und Indie genauso wenig.
»Wann geht’s los?«, frage ich ihn.
»Jetzt«, sagt er. »Oder wir schaffen es nicht bis zum Morgengrauen.«
Wir folgen ihm bis ans Ende des Dorfes. Ich sehe noch andere durch die Schatten huschen. Sie füllen die wenige Zeit, die ihnen noch bleibt, mit anderen Dingen aus. Niemand scheint Notiz von uns zu nehmen.
»Wagt denn nie jemand einen Fluchtversuch?«, frage ich.
»Nein, nicht oft«, antwortet er.
»Und was ist mit einer Rebellion?«, frage ich, als wir den Rand des Dorfes erreichen. »Redet ihr hier draußen nie darüber?«
»Nein«, antwortet der Junge kurz angebunden. »Tun wir nicht.« Er bleibt stehen. »Zieht eure Mäntel aus.«
Wir starren ihn an. Er lacht leise, während er aus seinem eigenen Mantel schlüpft und ihn durch die Träger seines Rucksacks zieht. »Ihr braucht sie schon bald nicht mehr, weil euch vom Laufen warm wird«, erklärt er.
Also streifen auch Indie und ich unsere Mäntel ab. Unsere schwarze Zivilkleidung verschmilzt mit der Nacht.
»Folgt mir«, sagt er.
Dann rennen wir los.
Nach einem Kilometer sind nur noch meine Hände kalt.
Damals in der Siedlung bin ich barfuß durch das Gras gerannt, weil ich Ky helfen wollte. Hier draußen trage ich schwere Stiefel und muss dicken Steinen ausweichen, an denen ich mir den Knöchel verknacksen könnte, und dennoch fühle ich mich leichter als damals, ja, leichter als jemals beim Training auf dem Laufband. Ich bin vollgepumpt mit Adrenalin und Hoffnung. Ich könnte ewig so laufen, hin zu Ky.
Wir legen eine Trinkpause ein, und ich fühle das eisige Wasser durch meine Kehle rinnen. Ich kann seinen Weg hinunter bis in den Magen genau verfolgen, ein kaltes Rinnsal, das mich einmal kurz erschauern lässt. Dann drehe ich wieder den Deckel auf die Feldflasche.
Doch zu bald schon werde ich müde.
Ich stolpere über einen Stein, weiche einem Busch zu spät aus. Er schlägt seine Zähne, seine spitzen Dornen in meine Kleidung und mein Bein. Frost knirscht unter unseren Füßen. Wir haben Glück, dass kein Schnee liegt. Die Luft ist wüstenkalt, eine scharfe, dünne Kälte, die einen in der Illusion wiegt, keinen Durst zu haben, weil man beim Atmen Eis zu trinken scheint.
Als ich meine Lippen mit der Hand berühre, sind sie trocken.
Ich blicke nicht zurück, um zu überprüfen, ob uns jemand verfolgt oder durch die Luft saust, um über unseren Schultern zu schweben. Wir haben genug damit zu tun, geradeaus zu schauen. Der Mond gibt genügend Licht, um Schemen zu erkennen, aber hin und wieder riskieren wir es, die Taschenlampen einzuschalten, wenn wir an düstere Stellen gelangen.
Der Junge schaltet seine Lampe ein und flucht. »Ich habe vergessen, in den Himmel zu schauen«, sagt er. Als ich nach oben sehe, erkenne ich, dass wir bei unseren Mühen, kleine Felsspalten und scharfkantige Gesteinsbrocken auszuweichen, beinahe im Kreis gelaufen wären.
»Du bist müde«, sagt
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