Cassia & Ky – Die Flucht
Gesellschaft liegen, auf denen alle Orte markiert sind, von denen die Gesellschaft nichts weiß oder die sie vor uns verheimlichen will.
»Glaubst du an einen Anführer, den man den ›Steuermann‹ nennt?«, frage ich.
»Ja!«, erwidert Indie aufgeregt, und dann rezitiert sie zu meiner Überraschung Verse – mit einer sanften Stimme, die so ganz anders klingt als ihr üblicher ruppiger Tonfall:
Jeden Tag die Sonne lacht
Am Himmel bis durchs Tor der Nacht.
Jede Nacht die Sterne funkeln
Über der Erde dort im Dunkeln.
Jeden Tag ihr Schiff fliegen müsste
Über die Wellen bis an die Küste.
»Hast du das geschrieben?«, frage ich neidvoll. »Das ist keines der Hundert Gedichte.«
»Nein«, antwortet Indie bestimmt. »Ich habe es nicht geschrieben, und es ist auch kein Gedicht.«
»Klingt aber wie eines«, entgegne ich.
»Trotzdem.«
»Was ist es dann?«, frage ich. Mir ist schnell klar geworden, dass es keinen Sinn hat, mit Indie zu argumentieren.
»Das hat meine Mutter jeden Abend vor dem Schlafengehen für mich aufgesagt«, erzählt mir Indie. »Als ich alt genug war, um nachzufragen, hat sie mir erklärt, dass der Steuermann derjenige ist, der die Erhebung anführen wird. Meine Mutter glaubte, es würde eine Frau sein, die über das Wasser kommt.«
»Oh«, sage ich. Ich habe mir den Steuermann als jemanden vorgestellt, der vom Himmel kommt. Aber Indie könnte recht haben. Wieder denke ich an das Tennyson-Gedicht, das ebenfalls vom Wasser handelt.
Indie denkt dasselbe wie ich. »Was ist mit dem Gedicht, das du beim Laufen aufgesagt hast?«, fragt sie. »Das habe ich noch nie zuvor gehört, aber es beweist, dass der Steuermann tatsächlich über das Wasser kommen könnte. Eine ›Barre‹ ist eine Sandbank in flachem Wasser und ein Steuermann jemand, der ein Boot sicher in den Hafen und wieder hinausgeleitet.«
»Über den Steuermann weiß ich nicht viel«, gestehe ich wahrheitsgemäß, obwohl ich meine eigenen Hoffnungen bezüglich des Anführers der Rebellion hege, die nicht ganz mit Indies Version übereinstimmen. Die zugrundeliegende Idee ist jedoch die gleiche, und in der Geschichte, die mir der Archivist gegeben hat, heißt es, der Steuermann sei immer wieder ein anderer. Indie und ich könnten also beide recht haben. »Ich glaube, es spielt keine Rolle. Es könnte sowohl ein Mann als auch eine Frau sein, aus dem Himmel wie aus dem Wasser. Was meinst du?«
»Ich wusste es!«, ruft Indie triumphierend. »Du bist nicht nur auf der Suche nach einem Jungen. Du suchst noch etwas anderes!«
Ich blicke hinauf in den schmalen Streifen Himmel mit seinen hellen, klaren Sternen.
Ist das wahr? Es war ein weiter Weg von der Siedlung bis hierher
, denke ich, aufgeregt und überrascht zugleich,
aber noch nicht weit genug
.
»Wir könnten aus der Schlucht hinausklettern«, schlägt Indie leise vor, »und über das Plateau in eine andere Schlucht wandern. Vielleicht finden wir ihn dort – ihn oder die Erhebung.« Sie schaltet ihre Taschenlampe ein und lässt den Strahl die Felswand hinaufwandern. »Ich kann klettern. Das lernt man in Sonoma. Meine Heimatprovinz. Morgen könnten wir nach einer geeigneten Stelle suchen, wo es nicht so hoch und steil ist.«
»Ich bin noch nie geklettert«, wende ich ein. »Meinst du, ich schaffe das?«
»Wenn du aufpasst und nicht hinunterschaust«, meint Indie.
Ich schweige und blicke nach oben. Sogar in dem kleinen Ausschnitt des Himmels, den wir von hier aus sehen können, funkeln mehr Sterne, als wir im Viertel je erkennen konnten. Irgendwie schenkt mir das die Hoffnung, es könne noch andere Dinge geben, von denen ich bislang nichts ahne. Ich hoffe es, für meine Eltern und Bram, für Xander, für Ky. »Lass es uns versuchen«, sage ich.
»Im Morgengrauen suchen wir uns eine Stelle«, beschließt Indie. »Bevor es richtig hell wird. Bei Tageslicht möchte ich den Übergang nicht wagen.«
»Ich auch nicht«, stimme ich ihr zu und schreibe neue Verse in den Sand:
Ich steige ins Dunkel für dich
Wartest du in den Sternen auf mich?
Kapitel 13 KY
Die Wände der Schlucht schimmern schwarz und orange. Wie loderndes Feuer, das zu Stein erstarrt ist. »Wie hoch sie sind!«, sagt Eli und blickt staunend nach oben. An dieser Stelle erheben sich die Felsen höher als jedes Gebäude, das ich je gesehen habe, höher als der Hügel in Oria. »Als hätte ein Riese Schnitte in die Erde gemacht und uns hineingesetzt.«
»Stimmt«, sage ich. In den Canyons sieht man Flüsse,
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