Cassia & Ky – Die Flucht
weiß, wer uns verfolgt oder was hinter unserem Rücken lauert.
»Nein, ich finde, wir sollten weitergehen«, sage ich schließlich. »Vielleicht entdecken wir bald Spuren von ihm.«
Indie nickt, schultert ihren Rucksack und hebt die beiden messerscharfen Steine auf, die sie im Laufen stets bereithält. Ich folge ihrem Beispiel. Auf Spuren von Tieren sind wir hier bereits gestoßen, aber noch nicht auf Zeichen von Anomalien.
Wir haben noch überhaupt keine Spuren von Menschen gesehen, lebendig oder tot, Aberration oder Anomalie, Funktionär oder Rebell.
In der Dunkelheit dieser Nacht arbeite ich an meinem Gedicht. Es lenkt davon ab, an das zu denken, was ich zurückgelassen habe.
Ich schreibe einen weiteren Anfang.
Ich fand keinen Weg, zu dir zu fliegen,
Und so gehe ich Schritt für Schritt über diesen Stein.
So viele Anfänge. Ich sage mir, es sei auch etwas Gutes daran, dass ich Ky bisher nicht gefunden habe, weil ich immer noch nicht weiß, was ich ihm zuflüstern soll, wenn ich ihn wiedersehe, und welche Worte die besten wären.
Schließlich sagt Indie: »Ich habe Hunger.« Ihre Stimme klingt so porös wie das Wespennest.
»Du kannst eine blaue Tablette haben, wenn du willst«, biete ich ihr an. Ich weiß nicht, warum ich so einen Widerwillen gegen diese Tabletten empfinde, obwohl jetzt genau eine der Situationen eingetreten ist, über die Xander mir hinweghelfen wollte. Vielleicht liegt es daran, dass der Junge, der uns begleitet hat, sie nicht haben wollte. Oder ich will sie als Geschenk für Ky aufbewahren, weil ich seinen Kompass weggegeben habe. Oder weil ich noch im Ohr habe, was Großvater zu mir über die grüne Tablette gesagt hat:
Du bist stark genug, um ohne sie auszukommen.
Indie wirft mir einen misstrauischen, verwirrten Blick zu.
Da fällt mir etwas ein, und ich hole meine Taschenlampe heraus. Ich leuchte die Umgebung ab und finde etwas, was ich schon früher bemerkt und in meinem Gedächtnis gespeichert habe: eine Pflanze. Meine Mutter hat mir zwar nicht viele Namen bestimmter Gewächse beigebracht, aber mir erklärt, woran man Giftpflanzen erkennt. Diese Pflanze trägt keines der Merkmale, und da sie Stacheln hat, muss sie sich anscheinend schützen. Die Blätter sind fleischig und grün mit violetten Rändern, zwar nicht so üppig wie die Vegetation zu Hause in unserer Siedlung, aber auf jeden Fall besser als das welke Gestrüpp dürrer Zweige und Blätter der Winterpflanzen ringsum. An manchen der kahlen Äste hängen kleine graue Kokons, Erinnerungen an Schmetterlinge.
Indie beobachtet zunächst, wie ich vorsichtig eines der breiten, stacheligen Blätter abzupfe. Dann hockt sie sich neben mich und macht es mir nach. Mit unseren Steinmessern kratzen wir die Stacheln ab. Es dauert eine Weile, doch dann haben wir beide ein kleines, enthäutetes, graugrünes Stück Pflanze vor uns.
»Meinst du nicht, das ist giftig?«, fragt Indie.
»Ich weiß es nicht genau«, antworte ich. »Aber ich glaube nicht. Ich probiere als Erste.«
»Nein«, erwidert Indie. »Wir probieren beide ein Stück und warten ab, was passiert.«
Eine Minute lang tun wir nichts anderes, als zu kauen, und obwohl es anders ist als die Nahrung, die ich mein Leben lang gegessen habe – Gesellschaftsnahrung –, beruhigt es ein wenig und dämpft das Hungergefühl. Wenn man mich jetzt aufschneiden würde, würde man ein Mädchen finden, das nicht von Knochen, sondern von sehnigen trockenen Nerven zusammengehalten wird, die der Rinde ähneln, welche an den Bäumen hier in Streifen herunterhängt.
Als nach einigen Augenblicken nichts geschieht, essen wir beide einen weiteren Bissen. Mir fällt ein neues Wort ein, das sich reimen könnte, schreibe es auf und wische es dann wieder weg. Nein, es klingt nicht gut.
»Was machst du da?«, fragt Indie.
»Ich versuche, ein Gedicht zu schreiben.«
»Eins von den Hundert Gedichten?«
»Nein, ein neues. Mit meinen eigenen Worten.«
»Wie hast du schreiben gelernt?«, fragt Indie, rutscht ein Stück näher und betrachtet neugierig die Buchstaben im Sand.
»Er hat es mir beigebracht«, antworte ich. »Der Junge, den ich suche.«
Sie schweigt wieder, und ich denke über einen neuen Vers nach.
Deine Hand um meine, wie du mir Buchstaben zeigst.
»Warum bist du eine Aberration?«, fragt mich Indie. »Gehörst du zur ersten Generation?«
Ich zögere, weil ich sie nicht anlügen will, aber dann fällt mir ein, dass ich gar nicht mehr lügen muss. Wenn die Gesellschaft meine
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