Cassia & Ky – Die Flucht
schweigend, während ich schnitze.
Als ich fertig bin, trete ich zurück und betrachte den Baum.
Flache Wurzeln. Sandiger Boden. Die Rinde ist grau und schorfig, die Blätter sind längst abgefallen. Aber jetzt steht da ihr Name, und er ist wunderschön.
Wir alle fühlen uns zu den Häusern hingezogen. Es scheint so lange her, seit wir eine Unterkunft gesehen haben, die von richtigen Menschen für einen längeren Aufenthalt errichtet wurde. Die Häuser, erbaut aus Bruchsandstein oder grau gebleichtem Holz, sehen verwittert aus. Eli steigt die Treppe zu einem hinauf. Vick und ich folgen ihm.
»Ky!«, sagt Eli, als wir drinnen sind. »Schau mal!«
Was ich dort drinnen erblicke, bringt mich dazu, meine Meinung zu revidieren. Vielleicht mussten sie doch relativ überstürzt fort. Hätten sie sonst ihre Häuser in diesem Zustand zurückgelassen?
Die Wände sind es, die von eiliger Flucht künden. Oder besser: von Zeitknappheit. Sie sind mit Bildern bedeckt, und wenn die Farmer mehr Zeit gehabt hätten, hätten sie die Farben abgewaschen. Die Bilder verraten zu viel.
In diesem Haus ist ein Boot abgebildet, das oben im Himmel auf einem Kissen weißer Wolken gestrandet ist. Der Künstler hat sein Werk in einer Ecke der Wand signiert. Diese Buchstaben beanspruchen das Bild – und das Konzept dahinter – als seines. Und obwohl dies der Ort ist, den ich die ganze Zeit gesucht habe, halte ich den Atem an.
In dieser Niederlassung hat er alles gelernt.
Das Schreiben.
Das Malen.
»Lasst uns hier bleiben«, schlägt Eli vor. »Hier gibt es Betten. Wir könnten für immer bleiben.«
»Hast du nicht etwas vergessen?«, fragt ihn Vick. »Die Leute, die hier gewohnt haben, sind nicht grundlos geflüchtet.«
Ich nicke. »Wir müssen eine Landkarte und etwas zu essen suchen und wieder aufbrechen. Lasst uns in den Höhlen nachsehen.«
Wir untersuchen sämtliche Höhlen in den Seitenwänden des Canyons. Einige von ihnen sind mit Felsmalereien verziert, wie die Mauern in den Häusern, aber wir finden nicht einen Fetzen Papier.
Sie haben seinen Vater das Schreiben gelehrt. Sie wussten, wie es geht. Wo haben sie ihre Texte aufbewahrt? Sie können sie nicht alle mitgenommen haben. Die Nacht bricht herein, und die Farben der Bilder verblassen im schwindenden schummrigen Licht zu einem undefinierbaren Grau. Ich blicke an den Wänden der Höhle hinauf, die wir gerade durchsuchen.
»Das hier ist komisch«, bemerkt Eli, der ebenfalls das Gemälde betrachtet. »Ein Teil davon fehlt.« Er leuchtet mit der Taschenlampe hinauf. Die Wände sind vom Wasser beschädigt, und nur der obere Teil der Malerei ist intakt geblieben – das Fragment eines Frauenkopfes. Man kann nur ihre Stirn und ihre Augen erkennen. »Sie sieht aus wie meine Mutter«, gesteht Eli leise.
Überrascht wende ich mich ihm zu. Denn genau dieses Wort geht mir die ganze Zeit im Kopf herum, obwohl meine Mutter nie hier gewesen ist. Ich frage mich, ob das Wort
Mutter
für Eli genauso heikel ist wie für mich. Problematischer noch als
Vater
. Denn meiner Mutter gegenüber hege ich keinen Groll. Ich spüre nur Verlust, und aus diesem Gefühl findet man nicht so schnell einen Ausweg.
»Ich weiß, wo sie die Landkarten versteckt haben müssen«, sagt Eli plötzlich. In seinen Augen liegt ein schlaues Funkeln, das ich bisher nicht bemerkt habe, und ich frage mich, ob ich Eli nicht etwa deshalb so sehr mag, weil er mich an Bram erinnert, sondern weil er mir so ähnlich ist. Ich war ungefähr in seinem Alter, als ich die roten Tabletten der Carrows stahl.
Als ich neu in Oria war, fand ich es befremdlich, zu beobachten, wie die Leute alle gleichzeitig aus ihren Häusern, ihren Arbeitsstellen und Airtrains strömten. Es machte mich nervös, dass sie sich alle zur gleichen Zeit an die gleichen Orte bewegten. Ich stellte mir daher vor, die Straßen wären die trockenen Flussbetten meiner Heimat und die Leute das Wasser nach den Regenfällen, das die leeren Gräben in reißende Bäche verwandelte. Ich sagte mir, dass die Menschen in ihren grauen und blauen Zivilkleidern nichts als eine andere Art von Naturgewalt seien, die vorbeizöge.
Doch es half nichts. Ich verirrte mich ausgerechnet in einer der Siedlungen.
Da beobachtete mich Xander, wie ich meinen Kompass benutzte, um den Weg nach Hause zu finden. Er drohte, Patrick anzuschwärzen, weil er mich das Artefakt behalten ließ, es sei denn, ich würde ein paar von den roten Tabletten stehlen.
Xander muss gewusst haben,
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