Cassia & Ky – Die Flucht
Mund.
Ky nickt und blickt mich an, traurig, müde und liebevoll.
Sie ist tot.
Ich schaue hinüber zu Eli. Wie reagiert er? Dann erinnere ich mich, dass er schon viel mehr Tote gesehen hat. Vielleicht sogar schon ein totes Kind.
Aber ich nicht. Mir steigen die Tränen in die Augen. Sie ist so jung, so winzig.
Warum?
Der Mann legt sie sanft auf den Boden, in das welke Gras unter den Bäumen. Dann weht der Bergwind Klänge zu uns hinüber. Gesang.
Es dauert lange, jemanden zu begraben.
Während der Mann die Grube aushebt, langsam und stetig, fängt es wieder an zu regnen. Nicht stark, aber dennoch trommeln die Regentropfen stetig auf Schmutz und Schlamm. Warum hat er sie mit herausgebracht? Vielleicht wollte er, dass ihr noch einmal Regen über das Gesicht rinnt, ein letztes Mal.
Oder er wollte einfach nicht allein sein.
Ich halte es nicht mehr aus. »Wir müssen ihm helfen!«, flüstere ich Ky zu, aber er schüttelt den Kopf.
»Nein«, erwidert er. »Warte noch.«
Der Mann klettert aus der Grube und geht hinüber zu dem Mädchen. Doch er legt sie nicht in das Grab, sondern daneben.
Dann bemerkte ich seine blau bemalten Arme.
Er fasst nach dem Arm des Mädchens.
Er holt etwas aus der Tasche. Etwas Blaues. Er bemalt damit ihre Haut. Der Regen wäscht die Farbe weg, aber er malt immer weiter, wieder und immer wieder. Ich kann nicht hören, ob er immer noch singt. Endlich hört der Regen auf, und das Blau bleibt haften.
Eli sieht nicht mehr hin. Er sitzt mit dem Rücken an die Wand gelehnt unterhalb des Fensters, und ich krieche zu ihm hinüber, auf allen vieren, damit der Mann keine Bewegung in unserem Haus bemerkt. Ich lege den Arm um Eli, und er rückt näher an mich heran.
Indie und Ky sehen weiter zu.
So klein!
, denke ich die ganze Zeit. Ich höre ein dumpfes Poltern und weiß für einen Moment nicht, ob mein Herz so laut pocht oder ob jetzt die Erdklumpen auf die Leiche des Mädchens im Grab fallen.
»Ich gehe jetzt«, flüstert Ky endlich. »Ihr anderen wartet hier!«
Ich drehe mich um und sehe ihn überrascht an. Ich recke den Kopf und schaue wieder aus dem Fenster. Der Mann hat das Grab gefüllt und legt jetzt einen flachen grauen Stein auf die Stätte. Ich höre keinen Gesang. »Nein!«, flüstere ich.
Ky sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Jetzt nicht«, bitte ich ihn. »Lass uns bis morgen warten. Denk nur, was er gerade durchgestanden hat.«
Ky erwidert sanft, aber fest: »Wir haben ihm so viel Zeit gelassen, wie wir konnten. Aber jetzt müssen wir mehr herausfinden.«
»Außerdem ist er gerade allein«, fügt Indie hinzu. »Und besonders verletzlich.«
Schockiert sehe ich Ky an, aber er erwidert nichts auf Indies Bemerkung. »Der Zeitpunkt ist richtig«, sagt er nur.
Bevor ich noch etwas hinzufügen kann, öffnet er die Tür und geht hinaus.
Kapitel 29 KY
»Macht, was ihr wollt!«, ruft der Mann, als ich den Rand des Friedhofs erreiche. »Es spielt keine Rolle. Ich bin der Letzte.«
Wenn ich nicht schon gewusst hätte, dass er ein Farmer ist, hätten ihn sein Dialekt und seine Ausdrucksweise verraten. Mein Vater hatte manchmal den Anflug ihres Tonfalls, wenn er aus den Schluchten zurückkehrte.
Ich hatte die anderen gebeten, zurückzubleiben, aber natürlich hat Indie ihren eigenen Kopf. Ich höre ihre Schritte hinter mir und hoffe, dass Cassia und Eli vernünftig genug sind, im Haus zu bleiben.
»Wer seid ihr?«, fragt der Mann.
Indie antwortet ihm. Ich drehe mich nicht zu ihr um. »Aberrationen«, sagt sie. »Leute, die die Gesellschaft töten will.«
»Wir sind in die Berge geflohen, um die Farmer zu suchen, weil wir dachten, ihr könntet uns helfen«, füge ich hinzu.
»Wir sind fertig damit«, erwidert der Mann. »Endgültig.«
Erneut Schritte. Hinter uns. Ich sollte mich umwenden und Cassia und Eli zurufen, zurück ins Haus zu gehen, aber ich kann dem Mann nicht den Rücken zudrehen.
»Ihr seid also zu viert«, stellt er fest. »Oder sind noch mehr bei euch?«
Ich schüttele den Kopf.
»Ich heiße Eli«, sagt Eli hinter mir.
Zunächst antwortet der Mann nicht. Nach einer Minute sagt er: »Mein Name ist Hunter.« Er mustert uns forschend. Ich erwidere seinen Blick. Er kann nicht viel älter sein als wir, aber Wind und Wetter haben seine Haut gegerbt.
»Hat irgendjemand von euch in der Gesellschaft gelebt?«, fragt er.
»Wir alle«, antworte ich. »Mehr oder weniger lange.«
»Gut«, sagt Hunter. »Es könnte sein, dass ihr mir helfen
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