Cassia & Ky – Die Flucht
seiner Meinung nach tun sollten: versuchen, die Niederlassung vor dem Hereinbrechen des Abends zu erreichen und uns in einem Haus möglichst weit weg von dem zu verbergen, in dem er das Licht gesehen hat. Dann würden wir Wache halten. Wenn es bei diesem einen Licht bliebe, könnten wir uns am Morgen nähern. Wir sind zu viert, während die anderen Kys Meinung nach höchstens zu zweit sind.
Wobei Eli natürlich noch sehr jung ist.
Ich werfe ihm einen Blick über die Schulter zu. Er bemerkt es nicht, denn er hält beim Wandern den Kopf gesenkt. Ich habe ihn zwar schon lächeln sehen, weiß aber, dass der Verlust von Vick ihn und auch Ky schwer belastet. »Eli wollte, dass ich an Vicks Grab das Tennyson-Gedicht aufsage«, hat mir Ky erzählt. »Aber ich konnte es nicht.«
Indie, die vorausgeht, rückt ihren Rucksack zurecht und blickt sich nach uns um, um sicherzugehen, dass wir noch hinter ihr sind. Ich frage mich, was aus ihr geworden wäre, wenn ich gestorben wäre. Was hätte sie getan? Hätte sie um mich geweint, oder hätte sie meine Sachen durchwühlt, genommen, was sie gebrauchen konnte und wäre weitergezogen?
In der Dämmerung schleichen wir uns in die Niederlassung, Ky an der Spitze.
Als wir zum ersten Mal hindurchgekommen sind, habe ich mich nicht genau umgesehen, aber als wir jetzt die Straße entlangeilen, üben die Häuser eine große Faszination auf mich aus. Offenbar haben die Leute sie selbst gebaut, und jedes Haus unterscheidet sich von dem daneben. Und sie konnten sich gegenseitig in ihrem Heim besuchen, die Schwelle zu einer anderen Wohnung übertreten, wann immer sie wollten. Davon künden die unbefestigten Wege, denn anders als in der Ahornsiedlung führen sie hier nicht schnurgerade vom Bürgersteig zur Haustür. Sie sind gewunden, vernetzt und miteinander verbunden. Die Bewohner sind noch nicht so lange fort, dass ihr Kommen und Gehen vollkommen ausradiert wäre. Ich erkenne ihre Spuren hier im Schlamm. Fast kann ich das Echo ihrer Stimmen, ihre Rufe in der Klamm hören:
Hallo! Tschüss! Wie geht’s dir?
Wir drängen uns alle vier in ein winziges verwittertes Haus mit einer von Wasser fleckigen Tür. »Ich glaube nicht, dass uns jemand gesehen hat«, meint Ky.
Ich höre ihm kaum zu, sondern starre die Bilder an der Wand an. Die Figuren darauf stammen von einer anderen Hand als der in der Höhle, sind aber ebenfalls wunderschön. Zwar haben sie keine Flügel auf dem Rücken, reißen beim Fliegen nicht überrascht die Augen auf und blicken nicht hinauf in den Himmel, sondern hinunter auf den Boden, als wollten sie den Anblick der Erde als Erinnerung für später konservieren.
Dennoch erkenne ich sie.
»Engel«, sage ich.
»Stimmt«, sagt Ky. »Einige Farmer haben noch an sie geglaubt. Jedenfalls zu Zeiten meines Vaters.«
Die Dunkelheit nimmt zu, und die Engel hinter uns werden zu Schemen. Dann sieht Ky etwas, in dem kleinen Haus auf der anderen Straßenseite. Er zeigt uns das Licht. »Es leuchtet im selben Haus wie neulich.«
»Was da drin wohl los ist?«, fragt Eli. »Wer könnte das sein? Ein Dieb? Meinst du, da plündert jemand die Häuser?«
»Nein«, erwidert Ky. Er wirft mir in der Dunkelheit einen Blick zu. »Ich glaube, sie sind dort zu Hause.«
Ky und ich erwachen beim ersten Morgenlicht und beobachten das Haus, damit wir den Bewohner sehen, bevor er uns bemerkt.
Er verlässt das Haus, allein, und trägt irgendetwas in den Armen. Er geht über den staubigen Weg, der nahe an unserem Haus vorbeiführt, hinunter zu einer kleinen Baumgruppe, die mir schon bei unserer Ankunft aufgefallen ist. Ky bedeutet uns, leise zu sein. Indie und Eli treten an das andere Fenster auf der Vorderseite des Hauses und schauen ebenfalls hinaus. Wir alle beobachten den Mann vorsichtig über den Rand der Fensterbretter hinweg.
Der Mann ist groß und stark, dunkelhaarig und sonnengebräunt. In gewisser Weise erinnert er mich an Ky, sowohl vom Typ her als auch wegen seiner geschmeidigen Bewegungen. Doch er wirkt sehr erschöpft und scheint für nichts anderes Augen zu haben als für das, was er in den Armen trägt. In dem Moment erkenne ich, dass es ein Kind ist.
Ein Mädchen. Ihre dunklen langen Haare hängen über seinen Arm, und sie trägt ein weißes Kleid. Weiß ist eine Funktionärsfarbe, aber natürlich ist sie keine Funktionärin. Das Kleid ist wunderschön, als ginge sie auf einen Ball, aber dafür ist sie natürlich viel zu jung.
Und viel zu still.
Ich schlage die Hand vor den
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