Cassia & Ky – Die Flucht
gab es nicht in den zentralen Provinzen«, erklärte sie dann. Sie fand in allem etwas Gutes und ergriff jede Gelegenheit beim Schopf.
Sie glaubte an meinen Vater und ging zu seinen Treffen. Wenn es einen Sturm gegeben hatte, begleitete er sie hinaus in die Wüste und leistete ihr Gesellschaft, während sie Pfützen suchte und mit Wasser malte. Er wollte etwas bewirken – Veränderungen, die von Dauer waren. Ihr war immer klar gewesen, dass all ihre Taten vergänglich waren.
Als ich Cassia tanzen sehe, ohne dass sie weiß, was sie tut – wie sie sich vor Freude im Kreis dreht, als sie die Bilder in der Höhle betrachtet –, verstehe ich meine Eltern besser. Unsere gemeinsame Zeit ist wundervoll und real, könnte sich aber als genauso vergänglich erweisen wie der Schnee auf dem Hochplateau. Uns bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir kämpfen darum, alles zu verändern, oder wir versuchen, das Beste aus jeder Minute machen, die uns geschenkt wird.
Kapitel 26 CASSIA
Ky lässt eine Taschenlampe brennen, so dass wir einander ansehen können, während wir uns unterhalten. Nachdem Eli und Indie eingeschlafen und nur noch Ky und ich wach sind, schaltet er die Lampe aus, um keine Energie zu verschwenden. Die Mädchen auf den Höhlenwänden tanzen zurück in die Dunkelheit, und wir sind wahrhaft allein.
Die Höhlenluft steht drückend zwischen uns.
»Eine Nacht«, beginnt Ky. Seine Stimme beschwört unsere Zeit auf dem Hügel herauf. Ich höre wieder den Wind, das Rascheln der Zweige an unseren Ärmeln und den Klang seiner Stimme, als er zum ersten Mal sagte, dass er mich liebt. Wir haben schon mehrmals Zeit von der Gesellschaft gestohlen. Wir können es wieder tun. Wenn es auch vielleicht nicht so viel sein wird, wie wir uns wünschten.
Ich schließe die Augen und warte.
Aber er redet nicht weiter. »Komm, lass uns rausgehen«, sagt er dann, und ich spüre, wie er mich an der Hand nimmt. »Wir gehen nicht weit.« Ich kann ihn nicht sehen, aber in seiner Stimme schwingen verschiedene Gefühle mit. Seine Berührung drückt dasselbe komplizierte Durcheinander aus. Liebe, Sorge und noch etwas anderes, etwas Bittersüßes.
Draußen gehen Ky und ich ein Stück den Weg entlang. Ich lehne mich an die Felswand, und er steht vor mir und fährt mit einer Hand an meinem Hals entlang, unter meine Haare und unter meinen Mantelkragen. Seine Haut ist rau vom Schnitzen und Klettern, aber seine Berührung sanft und liebevoll. Der Nachtwind singt in der Schlucht, und Kys Körper schützt mich vor der Kälte.
»Eine Nacht …«, gebe ich ihm das Stichwort. »Und wie geht es weiter?«
»Gar nicht«, antwortet Ky sanft. »Ich wollte dich um etwas bitten.«
»Worum denn?« Eng umschlungen stehen wir unter dem freien Himmel, unser Atem gefriert zu weißen Wölkchen, unsere Stimmen sind leise.
»Um eine Nacht«, wiederholt Ky. »Das ist doch nicht zu viel, oder?«
Ich sage nichts. Er schmiegt sich noch enger an mich. Ich spüre seine Wange an meiner und atme seinen Geruch nach Salbei und Harz, altem Staub und frischem Wasser tief ein.
»Können wir nicht eine Nacht lang nur an uns denken? Weder an die Gesellschaft noch an die Erhebung, ja, nicht mal an unsere Familien?«
»Nein«, antworte ich.
»Wie, nein?« Er wühlt mit einer Hand in meinen Haaren, mit der anderen drückt er mich an sich.
»Nein, ich glaube, das können wir nicht«, antworte ich. »Und nein, das ist nicht zu viel.«
Kapitel 27 KY
ich habe nie zuvor etwas von mir geschriebenes benannt
hatte keinen grund
denn
es wäre stets dieselbe überschrift gewesen
– für dich –
doch dies hier möchte ich nennen
eine nacht
diese nacht
als die welt nur noch aus dir
und mir bestand
sie drehte sich unter uns
grün und blau und rot
die musik brach ab
aber wir
sangen weiter
Kapitel 28 CASSIA
Als die ersten Sonnenstrahlen in die Schlucht fallen, sind wir schon unterwegs. Der Pfad ist so schmal, dass wir meistens im Gänsemarsch laufen müssen, aber Ky bleibt in meiner Nähe, läuft hinter mir, eine Hand auf meinen unteren Rücken gelegt. Unsere Hände suchen sich, und wir streicheln und umarmen uns, wann immer wir können.
Noch nie zuvor haben wir so etwas gehabt – eine ganze Nacht zum Reden, Küssen und Festhalten –, und der Gedanke
das war das erste und letzte Mal
sucht mich heim und lässt sich nicht verdrängen, nicht einmal in dem herrlichen Licht des Bergmorgens.
Nachdem die anderen erwacht waren, erklärte uns Ky, was wir
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