Cassia & Ky – Die Flucht
habe meine neue blaue Zivilkleidung angezogen und bin zur Arbeit gegangen. Aida und Patrick haben kein Wort gesagt. Ich auch nicht.«
Er sieht mich an, und ich strecke die Hand aus, in der Hoffnung, dass er die Berührung wünscht. Das tut er. Fest umschließt er meine Hand, ich spüre, wie ich mir einen neuen Teil seiner Geschichte aneigne. Das ist ihm widerfahren, während ich zu Hause saß, in derselben Straße wie er, mein vorgekochtes Essen aß, dem Terminal lauschte und von dem perfekten Leben träumte, das mir bald geliefert werden würde, so wie alles ungefragt geliefert wurde.
»An jenem Abend kehrte Patrick mit einem Schreibcomputer vom Schwarzmarkt nach Hause zurück. Ein altes, schweres Ding mit einem lächerlich primitiven Bildschirm. Zuerst drängte ich Patrick, ihn wieder zurückzubringen, aus Angst, er ginge ein zu hohes Risiko ein. Aber Patrick beruhigte mich, ich solle mir keine Sorgen machen. Er erzählte mir, dass mein Vater ihm nach Matthews Tod ein altes Schriftstück geschickt habe, und sagte, das habe er eingetauscht. Er fügte hinzu, er habe immer vorgehabt, irgendetwas für mich damit zu erwerben.
Wir gingen in die Küche, weil Patrick glaubte, das Dröhnen des Verbrenners würde unsere Geräusche übertönen. Wir verzogen uns in einen toten Winkel, in dem uns das Terminal nicht beobachten konnte. So hat er mir also das Sortieren beigebracht – größtenteils wortlos –, indem er mir es einfach zeigte. Den Computer habe ich, ebenso wie den Kompass, in meinem Zimmer versteckt.«
»Aber was war an dem Tag, an dem die Funktionäre alle Artefakte eingesammelt habe?«, frage ich. »Wie hast du ihn da verbergen können?«
»Bis sie kamen, hatte ich den Schreibcomputer schon gegen etwas anderes eingetauscht«, antwortet er. »Gegen das Gedicht, das ich dir zum Geburtstag geschenkt habe.« Er lächelt mich an und nimmt mich jetzt auch wieder richtig wahr. Er ist wieder hier bei mir, in den Äußeren Provinzen. Wir haben einen so weiten Weg hinter uns!
»Ky!«, flüstere ich. »Das war viel zu gefährlich! Was wäre passiert, wenn sie dich mit dem Gedicht erwischt hätten?«
Ky lächelt. »Sogar damals hast du mich gerettet. Wenn du mir nicht auf dem Hügel von dem Dylan-Thomas-Gedicht erzählt hättest, hätte ich nie den Schreibcomputer bei den Archivaren gegen dein Geburtstagsgedicht eingetauscht. Patrick und ich wären in Schwierigkeiten geraten. Ein Stück Papier zu verstecken war wesentlich einfacher.« Er streichelt mir über die Wange. »Deinetwegen fanden sie nichts bei uns zu Hause. Den Kompass hatte ich dir ja schon gegeben.«
Ich lege meine Arme um ihn. Es gab für die Funktionäre nichts mitzunehmen, weil er schon alles für mich eingetauscht und weggegeben hatte. Für einen Moment sagt keiner von uns ein Wort.
Dann löst er sich von mir und zeigt auf die Seite eines aufgeschlagenen Buches vor uns. »Da«, sagt er. »
Fluss.
Einer der Begriffe, über den wir mehr wissen müssen.« Die Art, wie er es sagt, lässt mich wünschen, diese Papiere einfach liegen zu lassen und meine Tage in dieser Höhle oder in einem der kleinen Häuser zu verbringen, mit nichts anderem beschäftigt, als das Rätsel namens Ky zu lösen.
Kapitel 35 KY
Als ich die Seiten mit den Lebensgeschichten der Farmer überfliege, denke ich an mein eigenes Leben zurück. Einzelne Szenen leuchten auf wie die Blitze draußen vor der Höhle. Grell. Schnell. Ich kann nicht sagen, ob ich dadurch mehr erkenne oder eher geblendet werde. Es gießt in Strömen, und ich stelle mir den Fluss vor, der alles mit sich reißt, was sich ihm in den Weg stellt. Er überflutet den Namen auf Sarahs kleinem Stein und legt ihre Knochen bloß.
Angst erfüllt mich. Ich möchte hier nicht bleiben, nicht gefangen sein! Ich darf so kurz vor den Toren der Freiheit nicht scheitern!
Ich finde ein liniertes Notizbuch mit kindlichen Kritzeleien.
S. S. S
. Ein schwerer Buchstabe, wenn man damit anfängt. Hat Hunters Tochter das geschrieben?
»Ich glaube, du bist jetzt alt genug«, sagte mein Vater und reichte mir ein Stück Pappelholz, das er aus der Schlucht mitgebracht hatte. Er hatte auch eines und ritzte ein Zeichen in den Schlamm, der vom Regen der letzten Nacht zurückgeblieben war. »Das hier habe ich in den Bergen gelernt. Schau mal.
K.
Damit fängt dein Name an. Es heißt, beim Schreibenlernen fängt man immer am besten mit dem eigenen Namen an. Denn auch wenn man nie etwas anderes lernt: So hat man doch wenigstens seinen
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