Cassia & Ky – Die Flucht
sein. Ich glaube, ich weiß, was der Dichter meint, obwohl ich noch nie von einer Sahara gehört habe. Es erinnert mich ein wenig an Sarah, der Name von Hunters Tochter, aber ein Kind wäre für die rechte Hand eines jeden ein zu hoher Preis.
Der Tod. Großvaters Tod zu Hause in Oria: ein Stück Kuchen auf einem Teller, ein Gedicht in einer Puderdose, reine weiße Bettwäsche, wohltuende letzte Worte. Der Tod auf dem Hochplateau in den Bergen: schwarze Brandwunden, aufgerissene Augen. Der Tod unten in der Schlucht: blaue Zeichnungen auf der Haut, Regen auf dem Gesicht eines Mädchens.
Und in der Höhle: Reihen um Reihen funkelnde Reagenzgläser.
Doch nie wieder würden
wir
es sein. Selbst wenn es der Gesellschaft gelänge, unsere Körper aus Wasser und Erde hervorzubringen, so dass wir wieder arbeiten und umhergehen könnten, wäre es niemals wie beim ersten Mal. Irgendetwas würde fehlen. Das könnte die Gesellschaft uns nicht geben. Wir können es uns selbst nicht geben. Das erste Leben besitzt etwas Einzigartiges, Unwiederbringliches.
Ky legt ein Buch weg und nimmt ein anderes zur Hand. Ist er meine erste Liebe?
Oder war es der Junge, der mich zum ersten Mal richtig geküsst hat? Jedes kleine Etwas, das Xander mir gegeben hat, ist von einer soliden Erinnerung untermauert, so klar und deutlich, dass ich sie beinahe berühren, schmecken und riechen kann. Ich kann sie fast hören – sie ruft mich zurück.
Ich habe immer gedacht, Xander sei der Glückliche, weil er in der Siedlung geboren wurde, aber inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Ky hat zwar viel verloren, aber er besitzt auch viel. Er hat die Fähigkeit, selbst etwas zu erschaffen. Er kann seine eigenen Texte schreiben. Alles, was Xander in seinem Leben geschrieben hat – getippt auf einem Terminal oder einem Schreibcomputer –, stammt nicht von seiner Hand, und stets lasen andere mit.
Als ich Ky ansehe, zerstreuen sich die Zweifel, die mich überfielen, als er und Indie eben diesen Blick gewechselt haben. An der Art, wie er mich ansieht, gibt es nichts zu zweifeln. »Was hast du gefunden?«, fragt er.
»Ein Gedicht«, seufze ich. »Ich muss mich besser konzentrieren.«
»Ich auch«, antwortet Ky lächelnd. »Die oberste Grundregel des Sortierens. Im Grunde leicht zu merken.«
»Kannst du auch sortieren?«, frage ich ihn überrascht. Das hat er noch nie zuvor erwähnt. Es ist eine besondere Fähigkeit, die zudem eine spezielle Ausbildung erfordert. Das ist nicht vielen Leuten gegeben.
»Patrick hat es mir beigebracht«, sagt er leise.
Patrick? Das Erstaunen muss mir ins Gesicht geschrieben stehen.
»Von Matthew glaubte man, dass er einmal Sortierer werden würde«, erklärt Ky. »Patrick wollte, dass ich das Gleiche lerne wie er. Er wusste, dass man mir niemals einen guten Arbeitsplatz zuweisen würde. Er wollte aber, dass ich meinen Verstand weiter benutzte, auch wenn ich nicht mehr zur Schule ging.«
»Aber wie hat er es dir beigebracht? Die Terminals hätten es registriert, wenn er es dir daran gezeigt hätte.«
Ky nickt. »Er hat einen anderen Weg gefunden.« Er schluckt und wirft Indie quer durch die Höhle einen Blick zu. »Dein Vater hat Patrick erzählt, was du für Bram getan hast – wie du es geschafft hast, Spiele für ihn auf dem Schreibcomputer zu installieren. Das brachte Patrick auf eine Idee, und er hat etwas ganz Ähnliches gemacht.«
»Haben die Funktionäre es nie bemerkt?«
»Wir haben nicht meinen eigenen Schreibcomputer benutzt«, antwortet Ky. »Er hat einen auf dem Schwarzmarkt ergattert – von den Archivaren. Er hat ihn mir an dem Tag gegeben, an dem ich die Stelle im Nahrungsentsorgungszentrum erhalten habe. Dadurch habe ich von den Archivaren in Oria erfahren.«
Kys Gesicht wird ausdruckslos, und seine Stimme verliert sich. Diese Miene kenne ich. So sieht er aus, wenn er etwas erzählt, von dem er lange Zeit nicht oder vielleicht sogar noch nie zuvor gesprochen hat. »Wir haben vorher schon gewusst, dass ich keine gute Stelle erhalten würde, deswegen war ich nicht weiter überrascht. Aber nachdem der Funktionär fort war …« Er hält inne, »… bin ich in mein Zimmer gegangen und habe den Kompass hervorgeholt. Dann habe ich einfach dagesessen und ihn eine Weile in der Hand gehalten.«
Ich hätte ihn gerne berührt, ihn umarmt, ihm den Kompass wieder in die Hand gelegt. Mir kommen die Tränen, und ich höre ihm zu, während er weiterspricht, noch leiser jetzt.
»Dann bin ich aufgestanden,
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