Cassia & Ky – Die Flucht
gesehen haben, ziehen heran, und der Himmel färbt sich violett, grau und blau, als die Sonne untergeht und wir die Niederlassung erreichen.
»Wir können nicht lange hierbleiben, oder?«, fragt Eli, als wir den Pfad zu den Lagerhöhlen hinaufsteigen. Ein greller, weißglühender Blitz zuckt zwischen Erde und Himmel, und Donner dröhnt durch die Klamm.
»Nein«, antwortet Ky auf Elis Frage. Die Gefahr, dass die Gesellschaft in die Canyons eindringt, ist größer als die, die uns auf der Ebene droht. Wir werden weiterziehen müssen.
»In den Höhlen müssen wir aber auf jeden Fall eine Rast einlegen«, gebe ich zu bedenken. »Wir brauchen mehr Proviant, und Indie und ich haben keine Bücher oder Dokumente zum Eintauschen.«
Außerdem finden wir dort vielleicht Informationen über die Erhebung.
»Das Gewitter müsste uns ein bisschen Zeit geben«, meint Ky.
»Wie viel?«, frage ich.
»Ein paar Stunden«, antwortet Ky. »Die Gesellschaft ist nicht die einzige Gefahr für uns. Das Unwetter könnte eine Flutwelle in der Schlucht auslösen, dann könnten wir den Fluss nicht mehr überqueren. Wir wären gefangen. Wir bleiben nur so lange hier, bis die Blitze uns nicht mehr gefährlich werden können.«
So eine lange Reise, und ob wir die Erhebung finden oder nicht, könnte nur eine Frage von Stunden sein.
Aber ich bin gar nicht auf der Suche nach der Erhebung aufgebrochen
, erinnere ich mich,
ich wollte zu Ky und habe ihn gefunden. Was auch immer als Nächstes geschieht, wir werden zusammen sein
.
Ky und ich eilen zu der Bibliothekshöhle, die mit Kisten gefüllt ist. Indie folgt uns.
»So viele Texte!«, staune ich überwältigt, als ich den Deckel einer der Kisten öffne und die Stöße von Papier und Büchern darin entdecke. Dieser Ordnung liegt eine ganz andere Sortiermethode zugrunde – so viele Seiten, so viel Geschichte. So sieht es also aus, wenn die Gesellschaft nicht alles für uns bearbeitet, beschneidet und zurechtstutzt.
Einige Seiten sind bedruckt, andere mit der Schrift unterschiedlicher Autoren gefüllt. Jede Handschrift unterscheidet sich von den anderen, jede ist einzigartig, wie die Menschen selbst.
Sie alle konnten schreiben.
Eine plötzliche Panik überfällt mich. »Woher soll ich wissen, was wichtig ist?«, frage ich Ky.
»Denk dir ein paar Stichworte aus«, rät Ky, »und suche nach ihnen. Was müssen wir wissen?«
Zusammen erstellen wir eine Liste. Die Erhebung. Die Gesellschaft. Der Feind. Der Steuermann. Außerdem müssen wir mehr über
Wasser, Fluss, Flucht, Nahrung
und
Überleben
erfahren.
»Hilf mit«, sagt Ky zu Indie. Sie starren sich einen Augenblick lang an. Indie wendet zuerst den Blick ab, blättert durch ein Buch und überfliegt die Seiten.
Ich finde etwas, das vielversprechend aussieht – eine gedruckte Broschüre. »Von denen haben wir schon eine«, wendet Eli ein. »Vick hat einen ganzen Stapel davon gefunden.«
Ich lege die Broschüre wieder hin. Dann öffne ich ein Buch und werde sofort von einem Gedicht abgelenkt.
Sie fielen wie Flocken, sie fielen wie Sterne,
Wie Blüten von einem Rosenstrauch,
Als plötzlich durch den Juni fährt
Mit Fingern ein kalter Hauch.
Es ist das Gedicht, in dem Hunter die Verse für Sarahs Grab gefunden hat.
Die Seite ist herausgerissen und wieder hineingeschoben worden – ja, das ganze Buch ist zerfleddert und fällt auseinander, fast als sei es für das Feuer auf einer Restaurationsbaustelle bestimmt gewesen, und dann hätte es jemand gefunden und sein Innenleben wieder in den Einband gesteckt. Einige Teile fehlen ganz – der vordere Einband scheint improvisiert, nachdem der erste verlorengegangen war. Nur noch ein nackter dicker Pappdeckel schützt die Seiten, und nirgends finde ich einen Hinweis auf den Autor.
Ich blättere weiter zu einem zweiten Gedicht:
Dich hab ich nicht erreicht –
Doch nähert Tag für Tag
Sich Dir mein Fuß
Drei Flüsse noch und einen Berg
Ich überqueren muss.
Noch eine Wüste, noch ein Meer,
Die Reise aber zähl ich nicht,
Wenn ich dann vor Dir steh.
Der Hügel. Und dann die Wüste und die Reise – das klingt wie meine Suche nach Ky. Obwohl ich weiß, dass ich nach anderen Dingen suchen sollte, lese ich weiter, weil ich das Ende wissen will:
Zwei Wüsten –
Doch das Jahr ist kalt
Das hilft über den Sand
Die eine Wüste ist durchquert
Die zweite kühl wie Land.
Selbst die Sahara wär’ kein Preis
Für Deine rechte Hand.
Ich würde fast jeden Preis zahlen, um bei Ky zu
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