Cassia & Ky – Die Flucht
müssen eine Liste von Leuten in der Siedlung gehabt haben, die sie ansprechen wollten.«
»Was passiert mit denen, die abgelehnt haben?«, fragte mich Xander. »Haben sie dir eine rote Tablette gegeben?«
»Nein«, sagte ich.
»Vielleicht haben sie keinen Zugang zu den roten Tabletten«, spekulierte Xander. »Ich arbeite im medizinischen Zentrum, und nicht einmal ich weiß, wo die Gesellschaft die roten aufbewahrt. Sie werden getrennt von den grünen und den blauen gelagert.«
»Vielleicht sprechen die Rebellen auch nur diejenigen an, von denen sie wissen, dass sie sie nicht verraten würden«, meinte ich.
»Woher wollen sie das wissen?«
»Einige von ihnen sind immer noch Bürger der Gesellschaft«, erinnerte ich ihn. »Sie wissen alles über uns und können dadurch ziemlich sicher vorhersagen, was wir tun werden.« Dann fügte ich hinzu: »Und natürlich haben sie recht. Du würdest sie nicht verraten, weil du dich ihnen angeschlossen hast. Ich würde sie nicht verraten, weil ich es nicht getan habe.«
Und weil ich eine Aberration bin,
dachte ich, sprach es aber nicht aus. Aufmerksamkeit zu erregen war das Letzte, was ich wollte. Schon gar nicht durch einen Bericht über die Rebellion.
»Warum willst du nicht mitmachen?«, bohrte Xander. Er klang keineswegs spöttisch. Er wollte es einfach nur wissen. Zum ersten Mal, seitdem ich ihn kannte, erkannte ich etwas wie Angst in seinem Blick.
»Weil ich nicht daran glaube, dass sie Erfolg haben werden«, antwortete ich.
Xander und ich waren uns nie sicher, ob die Leute von der Erhebung sich auch an Cassia gewandt hatten. Und wir wussten nicht, ob sie eine rote Tablette genommen hatte. Wir konnten ihr aber keine Fragen stellen, ohne sie in Gefahr zu bringen.
Später, als ich sie im Wald die beiden Gedichte lesen sah, befürchtete ich zunächst, ich hätte die falsche Entscheidung getroffen. Ich dachte, sie besäße das Tennyson-Gedicht, weil es die Losung der Erhebung war, und ich hätte die Chance verpasst, mit ihr zusammen daran teilzunehmen. Doch dann fand ich heraus, dass das andere Gedicht ihr liebstes war. Sie hat auf ihre Art gewählt. Und deswegen liebte ich sie nur umso mehr.
»Willst du dich wirklich der Erhebung anschließen?«, frage ich Indie.
»Ja«, sagt Indie. »Ja!«
»Du wirst es bereuen«, erwidere ich. »Jetzt willst du es unbedingt, und ein paar Monate lang wirst du glücklich sein, vielleicht ein paar Jahre, aber du gehörst dort nicht hin.«
»Was weißt du schon über mich!«, erwidert sie.
»Vieles«, antworte ich, beuge mich schnell zu ihr und berühre noch einmal ihre Hand. Sie hält den Atem an. »Vergiss das alles«, sage ich. »Wir brauchen die Erhebung nicht. Die Farmer sind da draußen. Wir gehen alle zusammen, du, ich, Cassia und Eli. Wir fangen ein neues Leben an. Was ist mit dem Mädchen geschehen, das flüchten und die Küste nicht mehr sehen wollte?« Ich nehme ihre Hand und halte sie fest.
Indie hebt den Blick und sieht mich erschüttert an. Als Cassia mir ihre Geschichte erzählt hat, wusste ich sofort, was los war. Indie hatte die Version mit ihrer Mutter und dem Boot so oft erzählt, dass sie selbst daran glaubte.
Doch jetzt steigt die Erinnerung wieder in ihr auf, die sie mit aller Macht zu verdrängen versuchte. Nein, es ging nicht um ihre Mutter. Sie war das. Nachdem sie ihr Leben lang dem Lied ihrer Mutter gelauscht hatte, baute sich Indie ein Boot und verursachte ihre eigene Deklassifizierung. Sie ist bei dem Versuch gescheitert, die Erhebung zu finden. Sie ist nicht mal so weit gekommen, dass sie die Küste aus den Augen verlor. Und irgendwann schickte die Gesellschaft sie vom Meer fort und in die Wüste, in den sicheren Tod.
Ich weiß, was geschehen ist, weil ich Indie durchschaut habe. Sie ist nicht die Frau, die zusieht, wie eine andere ein Boot baut und ohne sie in See sticht.
Indie sucht die Rebellen so verzweifelt, dass sie für nichts anderes mehr Augen hat. Schon gar nicht für mich. Ich bin noch schlimmer, als sie mich eingeschätzt hat.
»Es tut mir leid, Indie«, sage ich mit aufrichtigem Bedauern. Es schmerzt mich zutiefst, das tun zu müssen, was ich vorhabe. »Aber die Erhebung kann keinen von uns retten. Ich habe gesehen, was passiert, wenn man sich ihr anschließt.« Ich zünde ein Streichholz an und halte es an eine Ecke der Karte. Indie schreit auf, aber ich halte sie fern. Das Feuer leckt am Rand des Stoffs.
»Nein!«, schreit Indie und greift erneut nach der Karte. Ich stoße sie weg.
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