Cassia & Ky – Die Flucht
Sie blickt sich um, aber wir haben unsere Wasserflaschen in der Höhle zurückgelassen. »Nein!«, schreit Indie erneut, schubst mich weg und rennt zur Tür hinaus.
Ich versuche nicht, sie aufzuhalten. Was immer sie vorhat – den Regen aufzufangen oder am Fluss Wasser zu holen – dauert zu lange. Die Karte wird schnell zerstört sein. Wieder einmal erfüllt Rauchgeruch die Luft.
Kapitel 38 CASSIA
Es fällt mir schwer, mich auf den vor mir liegenden Text zu konzentrieren, weil ich die ganze Zeit daran denke, was wohl außerhalb der Höhle im nächtlichen Dorf gesprochen wird. Ich ertappe mich dabei, wie ich wieder Poesie lese, den nächsten Teil von
Dich hab ich nicht erreicht
:
Dann wartet noch die See,
Ihr Füße lauft vergnügt,
Der Weg ist nicht mehr weit
Doch Arbeit drücket noch
Zum Spiel bleibt keine Zeit.
Die letzte wird die kleinste Last,
Danach sind wir befreit.
Damit endet das Gedicht, doch anscheinend fehlen mehrere Strophen. Sie müssen auf der nächsten Seite gestanden haben, die herausgerissen ist. Doch selbst bei diesen wenigen Versen ist mir, als spräche der Dichter oder die Dichterin selbst mit mir. Die Person selbst ist längst tot, besitzt aber immer noch eine eigene Stimme.
Warum ich nicht?
Plötzlich wird mir klar, warum ich mich so sehr zu diesen Gedichten hingezogen fühle. Es liegt nicht nur an den Versen selbst, sondern sie vermitteln mir auch eine Ahnung davon, wie der Verfasser sie niedergeschrieben und sich zu eigen gemacht hat.
Dafür ist jetzt keine Zeit!
, ermahne ich mich. Die Werke in der nächsten Bücherkiste sehen auf den ersten Blick alle gleich aus. Auf den Einbänden steht jeweils HAUPTBUCH . Ich nehme eines heraus und lese einige Zeilen.
Dreizehn Seiten Geschichte für fünf blaue Tabletten. Händleranteil: eine blaue Tablette.
Ein Gedicht, Rita Dove, Originaldruck, für Informationen über die Vorgänge innerhalb der Gesellschaft. Händleranteil: Zugang zu den eingetauschten Informationen.
Ein Roman, Ray Bradbury, dritte Ausgabe, für einen Datenpod und vier Glasscheiben von einer Restaurierungsbaustelle. Händleranteil: zwei Glasscheiben.
Eine Seite aus dem BUCH für drei Fläschchen Medizin. Händleranteil: keiner. Händler handelte aus Eigenbedarf
.
So wurden also die Geschäfte getätigt, und deswegen sind so viele der Bücher zerrissen und die Seiten lose. Die Farmer haben die Werke wieder zusammengefügt, aber sie mussten sie auseinandernehmen, ihren Wert einschätzen und sie in einzelnen Seiten und Teilen verkaufen. Der Gedanke macht mich traurig, obwohl ich weiß, dass sie nun einmal dazu gezwungen waren, um hier draußen zu überleben.
Die Archivare handeln ähnlich, und auch ich musste eine Entscheidung treffen und ein Opfer bringen, als ich die blauen Tabletten behielt und den Kompass eintauschte.
Die Tabletten. Xanders Notizen. Steckt ein Geheimnis in ihnen? Ich reiße die Tablettenverpackungen auf und lege den Inhalt in zwei Reihen auf den Tisch: eine Reihe blaue Tabletten, eine Reihe Papierschnipsel.
Doch auf keinem der Zettel steht etwas über ein Geheimnis.
Voraussichtlicher Beruf: medizinischer Funktionär
Voraussichtliche Erfolgschancen: 99 , 9 Prozent
Voraussichtliche Lebenszeit: 80 Jahre
Zeile für Zeile Informationen, die ich bereits kenne oder mir hätte denken können.
Ich spüre, dass mich jemand ansieht. Eine Gestalt steht im Höhleneingang. Ich blicke auf, leuchte mit meiner Taschenlampe auf den sandigen Boden und versuche, die Tabletten und Schnipsel schnell in meinen Rucksack zu schieben. »Ky«, stammele ich, »ich wollte nur …«
Doch der Mann ist zu hochgewachsen, es kann nicht Ky sein. Verängstigt leuchte ich ihm ins Gesicht, und er schützt mit beiden Händen seine Augen. Geronnenes Blut bedeckt seine blau bemalten Unterarme.
»Hunter!«, sage ich. »Du bist wieder da!«
»Ich wollte flüchten«, sagt Hunter.
Im ersten Moment glaube ich, dass er die Kaverne meint, doch dann wird mir klar, dass das die Antwort auf die Frage ist, die Indie ihm vor dem Aufstieg gestellt hat:
Und was wolltest du?
»Aber du konntest nicht mitgehen«, stelle ich fest. Die Dokumente vor mir auf dem Tisch rascheln, als er näher kommt. »Wegen Sarah.«
»Sie lag im Sterben«, sagt Hunter. »Sie war nicht transportfähig.«
»Und die anderen wollten nicht auf dich warten?«, frage ich entsetzt.
»Uns blieb keine Zeit«, erwidert Hunter. »Ich hätte womöglich die ganze Flucht gefährdet. Andere, die für den Weg durch
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