Castello Christo
Das ist die Akte von damals.«
Varotto begann wütend im Büro umherzugehen. »Die arme Frau ... Erst wird ihr kleiner Sohn entführt und bleibt zwanzig Jahre spurlos verschwunden. Und dann bringt man ihn um, weil der Mörder einen weiteren Hauptdarsteller für sein makabres Passionsspiel braucht. Das ist doch der reinste Irrsinn!« Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. »Aber ... aber das würde ja bedeuten, dass ... dass dieser Mord schon vor zwanzig Jahren geplant worden ist!«
Sizilien
9
Die Maschine, ein moderner fünfzigsitziger Eurojet der Alitalia, landete pünktlich um 12 Uhr 45 in Catania.
Der Mann, der in der Ankunftshalle wartete, hatte seinen sechzigsten Geburtstag schon etliche Jahre hinter sich. Der asketische Körper war in eine dunkelbraune Kutte aus grobem Stoff gehüllt, die über der schmalen Hüfte von einer dicken Kordel zusammengehalten wurde. Als er den Kurienkardinal unter den Fluggästen erspähte, ging er ihm entgegen, ohne dass in seinem wettergegerbten und von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht eine Gemütsregung erkennbar gewesen wäre.
»Willkommen auf Sizilien, Eure Eminenz«, begrüßte er Voigt, küsste den Ring an dessen gepflegter Hand, drehte sich mit den Worten »Bitte, kommen Sie« um und eilte ihm in Richtung Parkplatz voraus.
Siegfried Kardinal Voigt nahm dem Mönch die Wortkargheit nicht übel. Das Leben der Patres war von klösterlicher Stille bestimmt und bestand neben dem Studiumalter Schriften und harter Feldarbeit vornehmlich aus Gebet und Kontemplation. Die Weltabgewandtheit der Klostergemeinschaft war vier Jahre zuvor auch der ausschlaggebende Grund gewesen, dass sie sich dazu entschlossen hatten,
ihn
dort unterzubringen.
Der Geländewagen, auf den der Pater zusteuerte, musste sehr alt sein. An den wenigen Stellen, an denen unter der dicken Schmutzschicht der Lack sichtbar war, bildete er blasige Erhebungen, die der Rost aufgeworfen hatte. Zur Verwunderung des Kardinals war das Wageninnere jedoch pieksauber. Voigt musste lächeln. Zwischen der Lebensweise der Mönche und dem Aussehen des Fahrzeugs gab es eine Parallele: Äußerlichkeiten spielten keine Rolle, das Innere wurde hingegen gepflegt und war folglich makellos.
Eine halbe Stunde nachdem sie Catania hinter sich gelassen hatten, wurde die Umgebung ländlicher. Überall abgeerntete Felder, Weinreben, Orangen-, Zitronen- und Olivenbäume: Voigt erinnerte sich, irgendwo gelesen zu haben, dass der Boden hier durch die verwitternde Lava des Ätna sehr fruchtbar war. Ein paar Kilometer weiter begann sich die Straße in vielen Kurven bergaufwärts zu winden, und nach Nicolosi prägten Buchen, Eichen, Kiefern und vor allem Ätnaginster die Landschaft.
Der Kardinal wusste von seinem ersten Besuch rund vier Jahre zuvor, dass das letzte Stück Weg bis zu der versteckt liegenden Klosteranlage sehr schmal war und steil anstieg. Während der schweigsame Pater den Landrover die holprige Schotterpiste hinaufjagte, wurden immer wieder Steine wie Geschosse von den Reifen nach hinten geschleudert. Voigt krallte seine Finger um den Haltegriff der Autotür und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.Seine Gesichtszüge entspannten sich erst wieder, als nach einer letzten scharfen Kurve die Klostermauern vor ihnen auftauchten. Durch das schnell von einem Mönch geöffnete Tor konnte er auf einem kleinen Plateau mehrere flache Gebäude erkennen, die u-förmig um einen großen Platz angeordnet waren. Blumenrabatten sowie ein paar Kastanienbäume bildeten einen schönen farblichen Kontrast zu der fast schwarzen Erde. Man hätte die Klosteranlage für einen Gutshof halten können.
Gleich eine ganze Gruppe Mönche in braunen Kutten kam auf sie zu, als der Pater zwischen zwei Beeten stoppte. Sie blieben einige Meter vor dem Wagen stehen. Einer der Männer trat näher und hielt Voigt die Tür auf. Der Wind hatte ihm das volle, nahezu schneeweiße Haar zerzaust.
»Pater Emilio«, begrüßte der Kardinal den Mönch freundlich, während er ihm die Hand zum Kuss reichte. »Ich freue mich, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen.«
Im Stillen dachte er, dass sich der Abt des Klosters in den vergangenen Jahren kaum verändert hatte. Nach wie vor wirkte er sehr agil, und seine wasserblauen Augen blickten noch ebenso offen wie damals.
»Die Freude ist ganz meinerseits, Eminenz, wenngleich ich gestehen muss, dass mir ein anderer Anlass für Ihren Besuch bedeutend lieber gewesen
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