Castello Christo
kleine Zimmer, in das er all ihre persönlichen Dinge gestellt hatte. Früher war es ihr Büro gewesen. Noch immer stand dort der Schreibtisch mit ihrem Computer, an dem sie abends oft gesessen und ihre Reportagen für ›Il Cortanero‹ geschrieben hatte. Er hatte den Raum in eine Kapelle verwandelt, einen Zufluchtsort, an den er sich zurückzog, wenn das Gefühl übermächtig wurde, das Leben ohne sie nicht meistern zu können. Hinterher fühlte er sich zwar meistens elender als zuvor, trotzdem brachte er es einfach nicht fertig, ihre Sachen wegzugeben und sich von der Vergangenheit mit ihr zu verabschieden.
Bremsen quietschten hinter ihm. Varotto zuckte zusammen. Während ein Mercedes wild hupend an ihm vorbeibrauste, fiel sein Blick auf das Gebäude, vor dem er, unbewusst und sicher ohne den Blinker zu setzen, angehalten hatte. Er stand vor einer Kirche. Ihrer Kirche. Hier hatten sie geheiratet.
Er machte den Motor aus. Das alte Gotteshaus lag etwas zurückgesetzt inmitten eines kleinen Parks. Sie waren oft zusammen hier gewesen, sonntags zum Gottesdienst, damals, als er noch einen Sinn in dem gesehen hatte, was der Pfarrer von der Kanzel herab predigte. Manchmal waren sie auch unter der Woche hergekommen, nachts, wenn ihr Auto nach einem Restaurantbesuch in der Innenstadt wie von allein zu dem Ort gefahren war, an dem ihr Glück seinen göttlichen Segen bekommen hatte. Einen Segen, der ihm inzwischen wie eine einzige Farce erschien. Seit jenem verhängnisvollen Wintertag waren die massiven Mauern dieser Kirche für ihn nicht mehr Schutzwall für den Tempelihrer Liebe, sondern nur noch Warnung, sich nie mehr blenden zu lassen von den Worten eines Gottesmannes, des Stellvertreters einer alles andere als gütigen Macht. Und dennoch öffnete er jetzt mechanisch die Fahrertür und stieg aus. Als wäre er ein ferngesteuerter Roboter.
Das Kirchenschiff war nur notdürftig beleuchtet, gerade so viel, dass alles in einen mystischen Schleier gehüllt schien. Neben dem Weihwasserbecken hielt er kurz inne, den Blick auf den Altar gerichtet, vor dem er einmal mit Francesca gekniet hatte. Sekunden nur, dann riss er sich davon los und wandte sich nach rechts.
Erst als er vor dem Bild stehenblieb, das auf Augenhöhe an der Wand angebracht war, wurde ihm bewusst, was er hier suchte: Er stand vor der Darstellung der sechsten Station des Kreuzweges.
18. OKTOBER 2005
Vatikan. Apostolischer Palast
13
Papst Alexander IX. deutete auf den mit rotem Samt bezogenen Besucherstuhl, der vor seinem breiten Schreibtisch stand.
»Bitte, setzen Sie sich.«
Seine Stimme klang müde. Voigt nahm Platz.
»Er wird in gut einer Stunde, gegen halb zehn Uhr, landen, Eure Heiligkeit«, erklärte der Kardinal.
Der Heilige Vater nickte bedächtig; sein Gesicht sah dabei aus, als hätte man ihm gerade etwas mitgeteilt, vor dem er sich schon lange fürchtete.
»Und wenn herauskommt, wer dieser Mann tatsächlich ist?«, fragte er beklommen.
Voigt machte eine beschwichtigende Geste. »Keine Sorge, Eure Heiligkeit. Der Justizminister hat mir zugesichert, dass niemand seine wahre Identität erfährt. Für die ermittelnden Beamten ist Matthias einfach nur ein Experte auf dem Gebiet religiöser Geheimbünde.«
»Aber wird ihn wirklich niemand erkennen? Diese furchtbare Geschichte vor vier Jahren hat weltweit Schlagzeilen gemacht.«
Der Kardinal schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Eure Heiligkeit. Er ist seinerzeit sofort abgeführt worden. Kein Journalist hat ihn je zu Gesicht bekommen, es gibt kein einziges Foto von ihm. Durch den Polizeisprecher ließen wir damals verlautbaren, dass er in einem italienischenGefängnis einsitzt, unter falschem Namen, um ihn vor den Mitgliedern der zerschlagenen Bruderschaft zu schützen. Und Sie erinnern sich sicherlich auch daran, dass wir im Einvernehmen mit dem Justizministerium ein paar Wochen später das Gerücht streuten, dass es den Simonern trotzdem gelungen war, Vergeltung zu üben. Offiziell ist er also tot.«
»Gebe Gott, dass Sie recht haben und kein Mensch dahinterkommt«, seufzte Papst Alexander IX. und strich mit zitternden Händen nervös über die Tischplatte. »Bitte bringen Sie ihn zu mir, sobald er da ist. Ich möchte mit ihm reden.«
Der Heilige Vater wirkte gebrechlicher denn je.
Il Castello
14
Sie hatten sich im großen Innenhof versammelt, wie er es befohlen hatte. Der Regen in der vergangenen Nacht hatte den Boden unter ihren Knien in kalten Schlamm verwandelt, und am Himmel
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