Castello Christo
nicht gelang, denn nun glaubte er auch noch die flehende Stimme des Kleinen zu vernehmen, die schluchzte:
Vater, bitte, ich kann nicht mehr. Lass mich ein wenig ausruhen.
Und er sah die vor Wut verzerrte Fratze seines Vaters, hörte,wie er den kleinen Jungen anschrie, er sei verweichlicht und schwach, genau wie seine Mutter. Und er sah, wie dieses achtjährige Kind, das sein Bruder gewesen war, zusammensackte, gerade so, als hätte es schlagartig keine Knochen mehr in seinem kleinen Körper. Obwohl das alles schon so viele Jahre her war, spürte Matthias, wie erneut Wut in ihm aufstieg, Wut auf diesen Wahnsinnigen, den er einmal Vater genannt hatte.
»Matthias?«
Er zuckte zusammen und blickte auf. Sie standen vor einer roten Ampel. Alicia sah ihn besorgt an.
»Was ist mit Ihnen, Matthias? Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ganz blass.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, alles in Ordnung. Es ist nur die Müdigkeit.«
»Sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
Die Ampel sprang auf Grün, und sie fuhren weiter auf die Kuppel des Petersdoms zu, die er in einiger Entfernung über den Dächern der Häuser ausmachen konnte. Als er zehn Minuten später an der Piazza Risorgimento ausstieg, drehte er sich um und beugte sich noch einmal in das Wageninnere.
»Danke, dass Sie uns bei dieser Sache unterstützen, Alicia.«
Einen Moment lang sah sie ihm tief in die Augen, dann lächelte sie. »Bis morgen, Matthias.«
Er schloss die Tür, und während der Fiat losfuhr, flehte in seinem Kopf ein kleiner Junge seinen Vater erneut an, eine Pause zu machen.
19. OKTOBER 2005
Vatikan. Vatikanische Bibliothek
26
Seit fast einer Stunde saß Matthias nun schon an einem der vier Meter langen Tische im großen Lesesaal. Dass er überhaupt dort sitzen konnte, war nur mit seiner Sondergenehmigung möglich gewesen. Normalerweise war der Besuch der Bibliothek ausschließlich Wissenschaftlern vorbehalten. Zum dritten Mal brachte Leonardo Vincenta nun schon einen Korb voller Bücher, die er vor ihm auf den Tisch legte, wo sich bereits mehrere Werke über religiöse Symbolik und die bisherigen Tatorte stapelten. Der junge Bibliothekar konnte die Bücher nach einem ausgeklügelten System suchen: Die riesige Bibliothek, die ständig durch Ankäufe und Schenkungen erweitert wurde, war nach den
Norme per il catalogo degli stampati
, den »Normen für das Katalogisieren von Gedrucktem«, aufgebaut, die auf den Präfekten Franziskus Ehrle zurückzuführen waren.
Ein Gähnen unterdrückend, beugte sich Matthias wieder über das vor ihm liegende Buch. Er war an diesem Morgen bereits um sieben aufgestanden. Schwester Luisa, eine portugiesische Ordensschwester, die in der Küche des Priesterseminars arbeitete, hatte ihm trotz der frühen Stunde einen doppelten Espresso gemacht und ihm süßes Gebäck hingestellt. Nach dem Frühstück hatte er sich gleich auf den Weg gemacht und fünf Minuten später dem Posten der Schweizergarde seinen von Kardinal Voigt ausgestelltenPassierschein gezeigt, wonach dieser ihm den Weg zur Bibliothek wies. Leonardo Vincenta schloss gerade die Tür zum Lesesaal auf, als Matthias dort ankam, erklärte ihm aber, dass die Bibliothek erst um 8 Uhr 30 öffnen würde. Matthias hatte daraufhin den Kardinal angerufen. Nach einem kurzen Gespräch zwischen Voigt und dem Bibliothekar konnte Matthias nicht nur die Bibliothek betreten, sondern bekam auch sämtliche Bücher gebracht.
Es war nun schon der siebte Band über religiöse Symbolik, den er an diesem Morgen überflog, um einen Hinweis auf das Zeichen zu finden, das den Opfern in den Nacken tätowiert worden war, als Leonardo Vincenta wieder auf ihn zukam und sich zu ihm herunterbeugte.
»Entschuldigen Sie, Signore, aber Seine Eminenz, Kardinal Voigt, hat soeben angerufen. Sie sollen unverzüglich zu ihm kommen. Es sei sehr dringend.«
Obwohl außer ihnen noch niemand im Lesesaal war, hatte der Pater so leise gesprochen, dass Matthias ihn nur schwer verstand. Wahrscheinlich die Macht der Gewohnheit, dachte er. Nachdem er den Bibliothekar gebeten hatte, die Bücher für ihn zurückzulegen, machte er sich auf den Weg zum Palazzo Sant’ Ufficio.
Kardinal Voigt wirkte sehr ernst, als Matthias dessen Arbeitszimmer betrat. Wortlos zeigte er auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch und wartete, bis Matthias sich gesetzt hatte.
»Es gibt Neuigkeiten aus der Questura. Heute früh hat sich anscheinend ein völlig aufgelöster Mann gemeldet. Er behauptet, auf dem Foto in der
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