Castello Christo
wenn wir ihn trotz Muttermal nicht identifizieren können?«, fragte die Reporterin. »Weil es niemanden mehr gibt, der es wiedererkennt?«
»Wenn ich’s mir recht überlege, halte ich das auch für möglich«, stimmte Varotto ihr zu und griff sich die oberste Mappe vom Aktenstapel, der vor ihnen auf dem Couchtisch lag. »Nun gut, gehen wir noch mal alles genau durch. Vielleicht haben wir ja etwas übersehen.«
Es war kurz vor Mitternacht, als Matthias missmutig die letzte Akte sinken ließ und sich mit Daumen und Zeigefinger einer Hand die Augen rieb.
»Nichts«, erklärte er gähnend. »Und ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich bin hundemüde. Könnten Sie mir ein Taxi rufen, Commissario?«
»Wo wohnen Sie?«, fragte die Reporterin und stand auf. »Ich kann Sie mitnehmen.«
»Ich habe ein Zimmer in einem Priesterseminar am Borgo Vittorio, Ecke Via Mascherino. Aber bitte, machen Sie sich meinetwegen keine Umstände, Signorina.«
Sie lachte. »Das sind keine Umstände, der Vatikan liegt auf meinem Weg. Kommen Sie.«
Varotto sah sie irritiert an. Wenn sie in der Zwischenzeit nicht umgezogen war, wohnte sie ein gutes Stück vom Vatikan entfernt; von seiner Wohnung aus war es jedenfalls ein Riesenumweg, wenn sie den Deutschen mitnahm. Aber er verkniff sich die Bemerkung.
Matthias verabredete mit dem Commissario, in dieQuestura zu kommen, sobald er in der Vatikanischen Bibliothek fertig war. Alicia wollte sich im Laufe des Vormittags bei Varotto melden. Bei der Gelegenheit tauschte sie auch gleich ihre Handynummer mit dem Deutschen aus.
Knappe zehn Minuten später saßen sie im Auto der Reporterin, einem nagelneuen Fiat Bravo, in dessen Innenraum es noch angenehm nach dem Leder der Sitze roch.
»Kannten Sie Daniele eigentlich schon vorher?«, fragte Alicia unvermittelt, kaum war sie losgefahren.
Matthias schmunzelte. »Nein, bisher hatte ich nicht das Vergnügen.«
Sie lachte. »Ja, er ist nicht einfach, der gute Daniele.«
Matthias nickte und sah sie von der Seite her an. »Und er scheint ein Problem mit Gott und der Kirche zu haben.«
Die Fröhlichkeit verschwand augenblicklich aus ihrem Gesicht und machte einem ernsten Ausdruck Platz. »Hat er Ihnen erzählt, wie es dazu gekommen ist?«
»Nein, Signorina Egostina. Ich habe angeboten, ihm zuzuhören, aber bisher hat er sich mir noch nicht anvertraut.«
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Haben Sie eigentlich auch einen Nachnamen?«
Überrascht über den unerwarteten Themenwechsel schüttelte er verneinend den Kopf, worauf sie ihn anlächelte.
»Möchten Sie mich dann nicht auch einfach Alicia nennen?«
»Gerne«, antwortete er und war ihr dankbar dafür, dass sie nicht weiter nachfragte.
Stumm blickten sie auf die Straße vor sich, die um diese Uhrzeit fast leer war. Gerade fuhren sie durch einen Teil Roms, der Matthias gänzlich unbekannt war. Hier gab es keine Geschäfte mit bunten Leuchtreklamen, keine Barsoder Cafés, aus denen Musik und das Lachen der Gäste auf die Straße drang. Nur spärlich erhellt, zeigten hier alte, heruntergekommene Fassaden, bröckelnde, mit Graffiti verzierte Mauern und überall herumliegender Müll die hämische Fratze der Armut. Der Anblick war deprimierend.
»Es ist wegen seiner Frau«, sagte Alicia plötzlich, und Matthias sah sie überrascht an. »Francesca. Sie war eine Freundin von mir. Meine beste Freundin. Durch sie habe ich Daniele kennengelernt. Vor gut zehn Monaten kam sie bei einem furchtbaren Unfall ums Leben. Sie wurden gemeinsam im Keller eines alten Hauses verschüttet und erst nach einem Tag gefunden. Sie lag während der ganzen Zeit tot auf ihm, ohne dass er sich hätte bewegen können. 24 Stunden lang.« Nun wandte sie ihm doch kurz das Gesicht zu, und er sah, dass ihre Augen feucht glänzten. »Danach war nichts mehr so wie vorher. Er zog sich total zurück. Vor allem von ihren gemeinsamen Freunden. Ihren Tod hat er bis heute nicht überwunden und hadert mit Gott.«
»Ich dachte mir schon, dass es ein traumatisches Erlebnis gewesen sein muss, das ihn so verbittert hat«, sagte Matthias nachdenklich. »Auch wenn es unsinnig ist, Gott die Schuld dafür zu geben, kann ich sein Verhalten doch verstehen. Der plötzliche Tod eines geliebten Menschen kann die Denkweise des Zurückbleibenden für immer verändern.«
Das Bild eines schmächtigen Jungen trat in sein Bewusstsein, dem Tränen über die schmutzigen Wangen liefen. Matthias versuchte es zu verdrängen, was ihm jedoch
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