Castillo der Versuchung
beweisen eindeutig, dass Lydia nicht die Tochter deines Bruders ist“, erklärte Navarro bedauernd. „Das Kind ist rein genetisch nicht mit deiner Familie verwandt.“
Antonio war so schockiert, dass er sich erst einmal auf den Stuhl fallen ließ, der vor dem Schreibtisch seines Freundes stand. Er wollte etwas sagen, besann sich jedoch schließlich eines Besseren. In persönlichen Dingen war er stets sehr zurückhaltend und wollte daran auch jetzt nichts ändern. Navarro mochte sein ältester Freund aus Kindertagen sein, aber hier ging es um eine Familienangelegenheit, die Antonios Ehre berührte.
„Ich bin sicher, diese Neuigkeit wird deine Frau genauso mitnehmen. Deshalb wollte ich damit lieber nicht ins Schloss kommen. Aber bitte fälle jetzt kein allzu hartes Urteil über Belinda, mein Lieber …“
Doch Antonio hörte schon nicht mehr zu. Dazu war er viel zu verärgert, und die Empörung drohte ihn ganz zu vereinnahmen. Bei dem Kind, das er als seine Nichte angesehen hatte und als seine Tochter anzunehmen bereit gewesen war, handelte es sich um ein Kuckucksei. In Lydias Adern floss kein einziger Tropfen Rocha-Blut. Wieso war überhaupt dieser enge Kontakt entstanden? Durch Belinda – und durch Sophie. Der Schock hatte sein Vertrauen, das er Sophie in den vergangenen Wochen entgegengebracht hatte, zutiefst erschüttert. Sicherlich kannte sie die Wahrheit. Eine andere Möglichkeit in Erwägung zu ziehen kam für Antonio nicht in Betracht.
Jetzt sprang er auf. „Ich muss nach Hause.“
Navarro wirkte besorgt. „Du musst dir vor allem ein bisschen Zeit nehmen, Antonio, um diese Neuigkeit zu verdauen. Übereilte Entschlüsse führen oft zu Fehlentscheidungen, die dann meist Unschuldige ausbaden müssen.“
Aber Antonio war viel zu wütend, um das Ganze philosophisch zu betrachten, und viel zu verletzt, um sich großzügig zu zeigen. Er war einer Betrügerin aufgesessen. Eine andere Erklärung gab es nicht. Er hatte eine Fremde geheiratet, weil er überzeugt gewesen war, ihr Schützling sei die Tochter seines Bruders. Aber er hätte vorher auf den Abstammungstest bestehen sollen. Rückblickend betrachtet, konnte er gar nicht verstehen, dass er sich so leicht hatte übers Ohr hauen lassen. Dabei war er noch von seinem Anwalt gewarnt worden. „Lassen Sie einen DNA-Test machen“, hatte dieser ihm geraten. Aber Antonio war ungeduldig gewesen und wollte die leidige Sache hinter sich bringen. Er hatte geglaubt, mit einer Heirat alle Probleme aus dem Weg zu schaffen, und sich auch dafür geschämt, dass Belinda durch seinen Bruder in die Armut getrieben worden war. Vor diesem Hintergrund noch anzuzweifeln, ob tatsächlich Pablo der Vater ihres Kindes war, erschien ihm anmaßend, sodass er davon abgesehen hatte.
Aber war es nicht merkwürdig, dass genau zu dem Zeitpunkt, da er sich entschlossen hatte, Lydia einfach mitzunehmen, Mrs. Moore auf der Bildfläche erschienen war? Ihre rührselige Geschichte über Sophies Unfähigkeit, eigene Kinder zu bekommen, hatte ihn umgestimmt. War Sophie als Kind überhaupt an Leukämie erkrankt? War sie tatsächlich unfruchtbar? Sophie hatte es ihm nicht persönlich erzählt, und sein Taktgefühl verbot ihm, direkt nachzufragen.
Wieder im Castillo ging Antonio erst einmal in den großen Salon, um sich ein Glas Brandy einzuschenken. Beim Verschließen der Bleikristallflasche bemerkte er, dass er zitterte. Er leerte das Glas in einem Zug und hastete hinauf ins Kinderzimmer. Warum, vermochte er nicht zu sagen. Der Raum war nur schwach beleuchtet, und das Kindermädchen, das gerade Kleidung wegräumte, entfernte sich diskret.
Lydia schlief tief und fest, ihr lockenumrahmtes Gesichtchen wirkte ganz entspannt. Zum ersten Mal wurde Antonio bewusst, wie sehr sie Sophie ähnelte. Lydia war genauso zart gebaut, hatte die gleiche Gesichtsform und dieselbe feine Haut. Aber ihr Haar war dunkler als das ihrer Tante, und auch die Augenfarbe unterschied sich von Sophies. Eingehend betrachtete Antonio das Kind, von dem er nun wusste, dass es in keinem direkten Verwandtschaftsverhältnis zu ihm stand. Dabei dachte er wehmütig, dass er eigentlich nie besonders an Kindern interessiert gewesen war, aber Lydia inzwischen trotzdem ins Herz geschlossen hatte. Doch selbst wenn sie ihm so vertraut vorkam, blieb sie die Tochter eines Fremden. Und war Sophie nicht auch eine Fremde? Die Frau, für die er sie gehalten hatte, hätte ihn niemals hintergangen.
Kritisch betrachtete sich Sophie im Spiegel
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