Castle 2: Naked Heat - In der Hitze der Nacht (German Edition)
der Nähe des U-Bahn-Eingangs.
Sie warf einen Blick auf die digitale Uhr am Bankgebäude am Ende der Straße, die abwechselnd die Zeit und die Temperatur anzeigte. Es war erst sechs Uhr achtzehn. Ihre Schichten begannen immer öfter auf diese Weise. Die Wirtschaftskrise hatte jeden getroffen, und ihrer persönlichen Beobachtung nach musste sie sich in letzter Zeit immer mehr Leichen ansehen. Das mochte an der Verringerung der polizeilichen Überwachung liegen oder daran, dass die schlechte Wirtschaftslage Verbrechen förderte – vielleicht auch an beidem. Sie brauchte keine Nachrichtensprecher, die ihr die Verbrechensstatistiken verkündeten, um zu wissen, dass die Zahl der Opfer gestiegen war und auch weiterhin stieg.
Doch egal, was die Statistiken besagten, die Opfer bedeuteten ihr etwas, jedes einzelne für sich. Nikki Heat hatte sich geschworen, Mordfälle niemals als bloße Zahlen anzusehen. Das lag weder in ihrer Natur, noch hatte ihre Erfahrung mit der Zeit dazu geführt.
Ihr eigener Verlust, der bereits fast zehn Jahre zurücklag, hatte sie innerlich zerrissen, doch zwischen dem Narbengewebe, das sich dort nach dem Mord an ihrer Mutter gebildet hatte, gab es immer noch Mitgefühl. Der Leiter ihres Reviers, Captain Montrose, hatte ihr einst mitgeteilt, dass diese Tatsache sie zu seinem besten Detective machte. Alles in allem hätte sie diese Position lieber ohne Schmerz erreicht, aber das lag nun einmal nicht in ihrer Hand. Und nun war sie hier, früh an einem ansonsten wunderschönen Oktobermorgen, und empfand diesen Schmerz erneut.
Nikki befolgte ihr persönliches Ritual, ein kurzer Augenblick der Besinnung für das Opfer. Auf diese Weise stellte sie mittels ihrer eigenen Opferrolle eine Verbindung zu dem Fall her und ehrte vor allem das Andenken an ihre Mutter. Sie benötigte dafür lediglich fünf Sekunden. Aber danach fühlte sie sich bereit.
Sie stieg aus dem Wagen und machte sich an die Arbeit.
Detective Heat duckte sich unter dem gelben Absperrband an der Öffnung des Abfallberges hindurch und verharrte mitten in der Bewegung. Ihr eigenes Gesicht starrte ihr von der Titelseite einer weggeworfenen Ausgabe des
First Press
-Magazins entgegen, die zwischen einem Eierkarton und einem fleckigen Kissen in einem Müllsack lag. Gott, sie hasste diese Pose – einen Fuß auf einen Stuhl im Hauptraum des Reviers gestellt, die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Sig Sauer im Holster an der Hüfte neben ihrer Marke. Und dann diese schreckliche Überschrift:
VERBRECHENSWELLE
TRIFFT
HITZEWELLE
Wenigstens war jemand so vernünftig gewesen, die Zeitschrift wegzuwerfen, dachte sie und ging weiter, um zu ihren beiden Detectives, Raley und Ochoa, innerhalb des abgesperrten Bereichs zu gelangen.
Die beiden Partner, die im Team liebevoll als „Roach“ bezeichnet wurden, befanden sich bereits bei der Arbeit und begrüßten sie. „Morgen, Detective“, sagten sie fast einstimmig.
„Morgen, Detectives.“
Raley betrachtete sie und meinte: „Ich würde Ihnen ja einen Kaffee anbieten, aber wie ich sehe, hatten Sie bereits einen.“
„Sehr witzig. Sie sollten Ihre eigene Fernsehshow bekommen“, erwiderte sie. „Was haben wir hier?“ Heat machte sich selbst ein Bild von der Situation, während Ochoa sie über das Opfer informierte. Es handelte sich um einen männlichen Lateinamerikaner im Alter von etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahren, der Arbeitskleidung trug und mit dem Gesicht nach oben in einem Haufen aus Müllsäcken auf dem Bürgersteig lag. An der weichen Unterseite seines Halses befanden sich hässliche Reiß- und Bisswunden. Sein Bauch wies an der Stelle, wo sein T-Shirt aufgerissen worden war, ähnliche Verletzungen auf.
Nikki musste unwillkürlich an ihre Begegnung mit dem Kojoten denken und wandte sich an den Gerichtsmediziner. „Woher stammen diese Bisswunden?“
„Ich vermute, dass sie ihm zugefügt wurden, nachdem er bereits tot war“, antwortete der Gerichtsmediziner. „Sehen Sie diese Wunden an den Händen und Unterarmen?“ Er deutete auf die Handflächen des Opfers, die flach an den Seiten seines Körpers lagen. „Die wurden nicht von Tierbissen verursacht. Dabei handelt es sich um Abwehrverletzungen, die von einer Waffe mit einer Klinge stammen. Ich würde auf ein Messer oder vielleicht auch ein Teppichmesser tippen. Wenn er noch am Leben gewesen wäre, als der Hund sich über ihn hermachte, hätte er auch Bisswunden an den Händen, was jedoch nicht der Fall ist. Und
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