Catch 22
ein wenig überrascht.
»Wir sind allesamt an diesem Geschäft mit der Illusion beteiligt.
Ich bin immer bereit, einem Mitverschwörer, der überleben will, die helfende Hand hinzustrecken, wenn er seinerseits bereit ist, auch mir zu helfen. Diese Besucher haben eine lange Reise hinter sich, und ich möchte sie nicht gerne enttäuschen. Ich habe eine Schwäche für alte Leute.«
»Sie sind doch aber gekommen, um ihren Sohn zu besuchen.«
»Dafür ist es zu spät. Vielleicht sehen sie den Unterschied auch gar nicht.«
»Vielleicht fangen sie an zu weinen.«
»Das ist sehr wahrscheinlich, denn um das zu tun, haben sie diese Reise unternommen. Ich werde an der Tür horchen und die Versammlung auflösen, wenn es zu sentimental wird.«
»Das klingt reichlich verrückt«, überlegte Yossarián. »Warum wollen sie überhaupt zusehen, wie ihr Sohn stirbt?«
»Ich muß zugeben, daß ich nie dahinter gekommen bin«, gestand der Arzt, »aber das wollen alle. Also wie steht es nun?
Sie brauchen nichts weiter zu tun, als ein paar Minuten still zu liegen und ein bißchen zu sterben. Das ist doch gewiß nicht zuviel verlangt?«
»Na gut«, gab Yossarián nach. »Wenn es nur ein paar Minuten dauern soll, und wenn Sie versprechen, draußen zu warten.« Er erwärmte sich für seine Rolle. »Warum machen Sie mir nicht einen Verband um den Kopf? Das erhöht bestimmt die Wirkung.«
»Das ist ein guter Einfall«, lobte der Arzt.
Man wand zahlreiche Bandagen um Yossarián. Die Krankenpfleger befestigten dunkle Vorhänge an den beiden Fenstern und füllten das Zimmer mit deprimierenden Schatten. Yossarián schlug Blumen vor, und der Arzt schickte einen Pfleger weg, der zwei kleine Sträuße verwelkter Blumen brachte, die einen kräftigen, Übelkeit erregenden Geruch verbreiteten. Als alles hergerichtet war, legten sie Yossarián ins Bett und ließen die Besucher eintreten.
Die Besucher kamen so unsicher herein, als empfänden sie sich als Störenfriede. Sie gingen auf Zehenspitzen mit unterwürfig um Entschuldigung bittenden Blicken, voran die trauernden Eltern, hinterdrein der Bruder, ein mürrischer, kompakter, faßbrüstiger Matrose. Mann und Frau traten steif nebeneinandergehend ins Zimmer, als stiegen sie unmittelbar aus einer vertrauten, nachgedunkelten, gelegentlich eines Jubiläums angefertigten Daguerrotypie von der Wand. Beide waren klein, vertrocknet und stolz. Sie schienen aus Eisen und alten, dunklen Kleidern gemacht. Die Frau hatte ein schmales, vergrübeltes, ovales Gesicht aus verkohltem Umbra, dazu strähniges, graues Haar, das streng in der Mitte gescheitelt und ohne Locke, Welle oder Verzierung in den Nacken gekämmt war. Der Mund war mürrisch und leidend, die faltigen Lippen waren zusammengepreßt. Der Vater stand steif aufgerichtet und seltsam anzusehen in zweireihiger Jacke mit wattierten Schultern, die viel zu schmal für ihn waren.
Er war in kleinem Maßstab breit und muskulös, und trug in dem zerfurchten Gesicht einen großartig geschwungenen, silbernen Schnurrbart. Die Augen waren verrunzelt und wässerig, und er wirkte geradezu tragisch befangen, wie er so unbeholfen dastand und die Krempe des schwarzen Filzhutes in den sehnigen Arbeitshänden vor die breiten Rockaufschläge hielt. Armut und schwere Arbeit hatten den beiden Alten unbillige Leiden zugefügt. Der Bruder blickte sich streitsüchtig um. Seine runde weiße Kappe saß ihm frech auf dem Schädel, er hatte die Hände zu Fäusten geballt und starrte mit dem Ausdruck herausgeforderter Grausamkeit jeden einzelnen Gegenstand im Zimmer an.
Die drei kamen schüchtern knarrend heran, blieben dicht beieinander wie in einem Begräbnistableau und bewegten sich zentimeterweise und beinahe im Gleichschritt, bis sie schließlich beim Bett angelangt waren und auf Yossarián herabblickten. Es herrschte eine grausige, quälende Stille, die in alle Ewigkeit zu währen drohte. Schließlich konnte Yossarián es nicht mehr ertragen und räusperte sich. Nun endlich sprach der alte Mann.
»Schrecklich sieht er aus«, sagte er.
»Er ist ja krank, Pa.«
»Giuseppe«, sagte die Mutter, die sich auf einen Stuhl niedergelassen und die von Adern durchzogenen Hände im Schoß gefaltet hatte.
»Ich heiße Yossarián«, sagte Yossarián.
»Er heißt Yossarián, Ma. Yossarián, kennst du mich nicht? Ich bin dein Bruder John. Weißt du nicht, wer ich bin?«
»Klar weiß ich das. Du bist mein Bruder John.«
»Er erkennt mich! Pa, er hat mich erkannt. Yossarián,
Weitere Kostenlose Bücher