Cathérine und die Zeit der Liebe
durch, da einer Eurer Soldaten schon geflohen ist.«
Das stimmte. Am frühen Morgen, als man die Kommandantur von Espalion verlassen hatte, bestand Ermengardes Eskorte nur noch aus drei Mann: Der vierte fehlte. Doch zur großen Überraschung Catherines hatte die alte Dame keinerlei Ärger gezeigt. Sie hatte lediglich mit den Schultern gezuckt.
»Die Burgunder lieben das Reisen nicht! Und die Vorstellung, nach Spanien zu reisen, paßte Saulgeon gar nicht. Er muß es vorgezogen haben, zurückzureiten!«
Diese unerwartete Philosophie hatte Cathérine zu denken gegeben. Sie kannte Ermengarde und die unbeugsame Festigkeit, mit der sie ihre Leute führte, zu gut, um ihre jetzige Haltung nicht eigenartig zu finden. Oder sollte die furchtbare alte Dame sich in dieser Hinsicht geändert haben?
In der Herberge Sainte-Foy wurde die Dame de Châteauvillain mit allen ihrem Rang gebührenden Ehren empfangen. Ermengarde verstand es übrigens ausgezeichnet, sich bedienen zu lassen. Das Haus war voll besetzt, aber sie bekam trotzdem zwei Zimmer: eins für Cathérine und sich selbst, das andere für ihre Kammerzofe und Gillette de Vauchelles, die sie kurzerhand unter ihre Fittiche genommen hatte. Die Reisenden vertilgten ihr Abendessen schnell und schweigend. Alle waren müde, aber während Ermengarde, kaum ins Zimmer getreten, sich niederlegte und einschlief, hielt Cathérine sich trotz ihrer Müdigkeit am Fenster auf, das auf den kleinen Platz hinausging. Und außerdem war der Schlaf an diesem Abend weniger wichtig, da man noch einen Tag hierbleiben würde.
Auf dem kleinen steinernen Vorsprung in der Fensterecke sitzend, ließ Cathérine den Blick über das fremde und pittoreske Bild draußen wandern. Komödianten, wie sie oft in den Städten der großen Pilgerfahrt erschienen, hatten sich vor der Kirche eingefunden und gaben ihre Vorstellung vor einer Versammlung von Dorfbewohnern und Pilgern, die mangels Unterkunft sich auf dem Vorplatz niedergelegt hatten. Es waren Musikanten, Viola- und Lautenspieler, Harfenisten und Flötisten. Ein magerer Junge, in ein halb grünes, halb gelbes Kostüm gekleidet, jonglierte mit brennenden Fackeln. Am Fuße eines der beiden romanischen Türme der Vorderfront sitzend, hatte ein Erzähler derber Schnurren in buntem Flitter einen Kreis von Jungen und Mädchen um sich versammelt. Schließlich tanzte zum Klang der Musik ein grellrot gekleidetes, schmales Mädchen mit bloßen Füßen vor der hohen fahlen Steinfassade, von der herab Christus in seiner Majestät seine segnende Hand über die Menschheit hob. Die Flammen der Fackeln belebten wie in einem Theater die Figuren des gewaltigen, in das Giebelfeld eingehauenen Letzten Gerichts, das wie eine Seite des Evangeliums koloriert und vergoldet war. Die Erwählten schienen im Begriff, sich in die himmlischen Regionen zu erheben, und die Verdammten verzerrten in der Höllenpein unter dem Gelächter der Teufel schmerzlich die Gesichter.
Der Zauber dieser Kulisse wirkte auf Cathérine. Sie dachte, daß sie genau an diesem Ort auf den Weg stieß, den Arnaud und nach ihm Gauthier gegangen waren. Einer wie der andere, der Reiter mit der schwarzen Maske, den mageren Knappen an der Seite, und der große blonde Normanne, mußten ihren Fuß vor dieses edle Portal gesetzt und sich einen Augenblick unter die Menge gemischt haben, die zu dieser Stunde unter den Sternen träumte … Cathérine brauchte nur für einen Moment die Augen zu schließen, um sie vor sich heraufzubeschwören, den flüchtigen Leprakranken und den Sohn der Wälder des Nordens. Wo waren sie um diese Stunde? Was war ihnen zugestoßen, und welche Spur würde sie finden, sie, die sich mit den schwachen Kräften einer Frau auf die Suche nach ihnen gemacht hatte? Denn ebensowenig, wie sie glauben konnte, daß Arnaud auf immer für sie verloren war, gab sie sich mit dem Gedanken zufrieden, daß Gauthier tot sein sollte. Der Riese hatte etwas Unzerstörbares an sich. Der Tod konnte ihn nicht so niedergestreckt haben, in voller Jugend, auf dem Höhepunkt seiner Kraft. Erst in vielen Jahren würde er ihn in seine Gewalt bekommen, wenn sein Diener, das Alter, seine gemeine Arbeit an dem granitenen Körper verrichtet hätte.
Plötzlich wurde Cathérine in ihren Gedanken unterbrochen. In der Menge, die den Gauklern zusah, erkannte sie Gerbert Bohat. Er näherte sich der roten Tänzerin. Das Mädchen hielt keuchend inne, um der Menge ein Tamburin entgegenzustrecken, als der Clermonteser es ansprach.
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