Chalions Fluch
Cazaril ging nicht davon aus, dass jemand sie eines Todeszaubers verdächtigte oder anklagte – ebenso wenig, wie man ihn selbst verdächtigte oder anklagte. Und doch, Iselle war hier, und Dondo war fort. Jeder Höfling mit ein bisschen Verstand musste durch Dondos geheimnisvolles Ableben beunruhigt sein, und mancher mehr als nur ein wenig.
»Dir soll in Zukunft keine Heirat ohne dein vorheriges Einverständnis angeboten werden«, verkündete Orico mit ungewohnter Bestimmtheit. »Das verspreche ich dir bei meinem eigenen Kopf und meiner Krone.«
Das war ein feierlicher Eid! Cazaril runzelte die Stirn. Offensichtlich meinte Orico es ernst. Iselle schürzte die Lippen, nahm den Schwur dann aber mit einem unmerklichen, wachsamen Nicken an.
Ein leises, verächtliches Schnauben, ausgestoßen durch die Nase einer Frau – Cazarils Blicke richteten sich auf Königin Sara. Ihr Gesicht lag im Schatten der Fensternische, doch ihr Mund verzog sich bei den Worten ihres Gatten zu einem spöttischen Ausdruck. Cazaril erinnerte sich, welch feierliche Schwüre Orico ihr gegenüber gebrochen hatte, und blickte unbehaglich in eine andere Richtung.
»Aus demselben Grund …«, Orico wechselte zu seiner nächsten Ausrede wie ein Mann, der auf Trittsteinen über einen Fluss eilte, „… verbietet es unsere Trauer, dich jetzt schon Ibra anzubieten. Der Fuchs mag uns diese Eile als Beleidigung auslegen.«
Iselle machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Aber wenn wir warten, wird Bergon uns wahrscheinlich weggeschnappt! Der Prinz ist nun der Erbe, er ist in heiratsfähigem Alter, und sein Vater möchte seine Grenzen sichern. Der Fuchs muss ihn für einen Verbündeten eintauschen – eine Tochter des Markgrafen von Yiss vielleicht, oder eine reiche Adlige aus Darthaca –, und Chalion hat seine Chance verpasst!«
»Es ist zu früh. Zu früh! Ich will ja nicht leugnen, dass deine Argumente gut sind. Tatsächlich hat der Fuchs schon vor einigen Jahren auf diplomatischem Weg um deine Hand angehalten – ich weiß nicht mehr, für welchen Sohn. Aber die Verhandlungen wurden abgebrochen, als die Unruhen in Süd-Ibra ausbrachen. Es wurde nichts festgemacht. Warum auch? Meine unglückliche Mutter aus Brajar wurde fünfmal verlobt, bis sie endlich König Ias heiratete. Fasse dich in Geduld, beruhige dich, und warte auf einen schicklicheren Zeitpunkt.«
»Ich denke, jetzt ist ein ganz hervorragender Zeitpunkt gekommen! Ich möchte, dass du eine Entscheidung triffst, sie offen verkündest und dazu stehst, bevor Kanzler dy Jironal zurückkehrt!«
»Ach so. Ah … ja. Aber da wäre noch ein anderer Punkt: Ich kann unmöglich eine Entscheidung von derartiger Tragweite treffen, ohne mich zuvor mit meinem obersten Gefolgsmann und den anderen Edlen im Rat zu besprechen.« Orico nickte vor sich hin.
»Beim letzten Mal hast du dich auch nicht mit den Edlen besprochen. Du bist seltsam ängstlich, irgendetwas ohne die Zustimmung von dy Jironal zu unternehmen! Wer ist denn König in Cardegoss? Orico dy Chalion oder Martou dy Jironal?«
»Ich … ich werde über deine Worte nachdenken, liebe Schwester.« Orico machte ängstliche Abwehrbewegungen mit seinen fleischigen Händen.
Iselle musterte ihn eine Zeit lang mit solch brennender Eindringlichkeit, dass er sich krümmte. Dann akzeptierte sie seine Worte mit einem knappen Nicken. »Ja, denkt über meine Worte nach, Majestät. Ich werde morgen noch einmal fragen.«
Mit diesem Versprechen – oder dieser Drohung – machte sie einen neuerlichen Knicks vor Orico und Sara und zog sich dann zurück, Betriz und Cazaril auf den Fersen.
»Morgen und an jedem folgenden Tag?«, fragte Cazaril flüsternd, während sie mit raschelnden Gewändern über den Gang rauschte.
»Jeden Tag, bis Orico nachgibt«, entgegnete sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Verlasst Euch darauf, Cazaril.«
Winterlich blasses Licht fiel durch die grauen Wolken, als Cazaril später am Nachmittag den Zangre verließ und sich zu den Stallungen begab. Er legte seinen feinen, bestickten Wollmantel um die Schultern und zog wie eine Schildkröte den Kopf ein zum Schutz vor dem feuchten, kalten Wind. Wenn er durch den Mund ausatmete, kondensierte sein Atem zu einer kleinen Dunstwolke. Er blies einige Wölkchen auf die Geister, die beständig um ihn herum trieben – im Sonnenlicht fast bis zur Unsichtbarkeit ausgebleicht. Feiner, weißer Frost glänzte auf den Kanten der Pflastersteine unter seinen Füßen. Er öffnete das
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