Chalions Fluch
höchste Dame im Lande. Doch kein aufmerksamer Beobachter hätte Orico als gesund eingeschätzt. Die unheimlichen Schatten um das müde königliche Paar wirkten wie eine Hervorhebung ihrer Traurigkeit. Die beiden spielten nicht aus Müßiggang, wie Cazaril erkannte, sondern zur Zerstreuung, zur Ablenkung von der Furcht und dem Kummer, die sie von allen Seiten umgaben.
Saras Garderobe überraschte Cazaril: Sie trug nicht wie Orico das Schwarz und Lavendel der Hoftrauer, sondern war ganz in Weiß gekleidet – das Festtagsgewand zum Tag des Bastards, dem zusätzlichen Feiertag, der alle zwei Jahre nach dem Mittsommertag der Mutter eingeschoben wurde, um zu verhindern, dass der Kalender von den Jahreszeiten abwich. Der gebleichte Leinenstoff war viel zu dünn für das derzeitige Wetter, und so kauerte sie zusätzlich unter einem großen, flauschig weißen Schultertuch. In den bleichen Gewändern wirkte sie düster, zart und fahl. Diese Kleidung war eine noch offenkundigere Beleidigung als die farbenfrohen Kleider und Roben, die sie hastig für Dondos Bestattung übergeworfen hatte. Cazaril fragte sich, ob sie das Weiß des Bastards während der gesamten Trauerzeit zu tragen gedachte … und ob dy Jironal es wagen würde, sich zu beklagen.
Iselle machte einen Knicks vor ihrem königlichen Bruder und ihrer Schwägerin, dann stand sie vor Orico, mit glänzenden Augen und verschränkten Händen. Nur ihr kerzengerader Rücken strafte diese Haltung zurückhaltender Weiblichkeit Lügen. Cazaril und Lady Betriz erboten ebenfalls ihren Respekt. O rico wandte sich vom Spielbrett ab und erwiderte den Gruß seiner Schwester. Er schob den Bauch auf seinem Schoß zurecht und beäugte sie mit Unbehagen. Aus der Nähe konnte Cazaril erkennen, wo Oricos Schneider unter den Armen einen passenden Stoffstreifen aus lavendelfarbenem Brokat eingefügt hatte, um den Umfang der Tunika zu erweitern; auch die kleinen Verfärbungen, wo der Saum der Ärmel aufgetrennt und wieder vernäht worden war, waren deutlich zu erkennen. Königin Sara raffte ihr Schultertuch zusammen und zog sich ein wenig tiefer in die Fensternische zurück.
Ohne größere Vorrede brachte Iselle sogleich ihre Bitte an den König vor, die offiziellen Verhandlungen mit Ibra um die Hand des Prinzen Bergon aufzunehmen. Sie wies auf die Gelegenheit hin, auf diese Weise ein Friedensangebot vorzulegen und so den Bruch zu kitten, den Oricos unglückselige Unterstützung für den verstorbenen Thronfolger hervorgerufen hatte – denn gewiss waren weder Chalion noch das erschöpfte Ibra bereit, den Streit derzeit fortzusetzen. Sie stellte heraus, wie sehr Bergon in Alter und Rang ihren eigenen Jahren und ihrem Rang entsprach, und wies außerdem auf den Vorteil für Orico hin: Für den König – und, wie sie diplomatisch verschwieg, später auch für Teidez – konnte es nur gut sein, zukünftig einen Verwandten und Freund am Hofe von Ibra zu haben. Sie zeichnete ein lebhaftes Bild der Belästigungen, die es mit sich brächte, würde der niedere Adel Chalions um ihre Hand wetteifern. Durch eine Verbindung mit Ibra könne Orico eine derartige Unruhe geschickt umgehen! Ihre Beredsamkeit entlockte dem König einen sehnsüchtigen Seufzer.
Dennoch setzte Orico bei seinen erwarteten Ausflüchten an diesem letzten Punkt an. »Iselle, deine Trauer schützt dich eine Weile. Martou wird das Gedenken seines Bruders nicht beschmutzen, indem er Dondos trauernde Verlobte noch über dessen heiße Asche hinweg verheiratet.«
Beim Wort trauernde ließ Iselle ein Schnauben hören. »Dondos Asche wird rasch genug abkühlen, und was dann? Orico, du wirst mir nicht noch einmal ohne meine Einwilligung einen Ehemann aufzwingen – ohne meine vorherige Einwilligung. Das lasse ich nicht zu!«
»Nein, nein«, pflichtete Orico ihr hastig und mit den Händen wedelnd bei. »Das war ein Fehler, das weiß ich jetzt. Es tut mir Leid.«
Na, das war mal eine Untertreibung.
»Ich wollte dich nicht kränken, liebe Schwester, oder die Götter!« Orico schaute ein wenig unsicher umher, als befürchte er, eine beleidigte Gottheit könne jeden Augenblick aus irgendeinem astralen Hinterhalt hervorspringen und über ihn herfallen. »Ich wollte nur das Beste für dich und Chalion.«
Mit einiger Verspätung dämmerte es Cazaril, dass außer ihm selbst und Umegat zwar niemand bei Hofe wusste, wessen Gebete Dondo so überstürzt aus dem Leben hatten scheiden lassen, aber jeder wusste von den Gebeten der Prinzessin!
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