Chandler vom Smaragd-Atoll
nicht wusste, wie sie anders erfolgversprechender reagieren sollte. Sie versuchte es immer wieder mit Gesprächen, bekam aber nur die Antwort, doch nicht so verbissen zu sein und selber mal ein bisschen lockerer zu werden.
„Hier nimm doch mal einen Schuß, dann fühlst du dich gleich besser.“
Sie lehnte ab.
„Du musst das nicht so verkniffen sehen, Kind. Hast du denn nie Hasch geraucht bei euch an der Schule?“
„Siehst du Bilder von dem Leben auf der Erde?“ wollte Paul wissen und holte sie dadurch in die Wirklichkeit zurück.
„Ja, es ist manchmal so realistisch, als wenn man alles noch einmal erleben würde.“
„Kannst du die Erinnerungen auseinander halten?“ wollte Paul jetzt wissen.
„Ja, aber sicher. Die Unterschiede sind zu gro ß, als dass man sie vermengen könnte. Denn was kann unterschiedlicher sein, als das Leben an den Korallenriffen und in deren Kristallsälen zu dem Leben in London.“
Helen war teilweise bei ihrer Großmutter, einer vermögenden Dame, aufgewachsen, die aber starb, als Helen 16 Jahre alt war. Ein Teil des Geldes hatte ihre Mutter geerbt, als monatliche Auszahlung. Der Rest war Helens Erbe, die damals noch nicht volljährig war, und lag auf einem Treuhandkonto. Doch seitdem die Mutter über den eigenen Erb-Anteil verfügen konnte, hatte ihr Drogenkonsum zugenommen, sie arbeitete nicht mehr halbtags, wie vorher, und sie unternahm keine Versuche, eine neue Stelle zu finden. Denn finanziell kam sie mit den monatlichen Zahlungen aus dem Erbe von Helens Großmutter seit deren Tod gut zurecht. Das Stadthaus gehörte der Großmutter. Drei Etagen waren vermietet und brachten gute Mieterträge. In der zweiten Etage lebte Helen zusammen mit der Mutter seit dem Auszug des Vaters allein. Helen wusste nicht mehr so recht, ob der Vater ausgezogen war, weil die Mutter süchtig war, oder ob die Mutter anfing, Drogen zu nehmen, weil der Vater sich getrennt hatte. Aber es wurde schlimmer mit der Mutter, besonders seitdem sie nicht mehr arbeitete. All die anderen Sommerferien vorher hatte Helen mit ihrer Großmutter zusammen verbracht, an der See in der schönen Landvilla, unterbrochen von Urlaubsreisen, Flügen, Theaterbesuche, Musikkonzerte. Manchmal war die Mutter auch da gewesen, natürlich immer zu den Feiertagen.
„Welche Bilder sind intensiver? Die von den Korallenriffen oder aus London?“ fragte Paul jetzt. Helen fand seine Fragerei irritierend. Später wusste sie, dass er damit beabsichtigte, sie in der Realität zu halten, damit sie nicht in einen Traumzustand verfiel, aus dem es so schwer war, wieder herauszufinden.
„Also gerade denke ich an London.“
„Konzentrier dich auf die Korallenriffe“, sagte Paul.
Warum das denn? Wieso wollte er ihr vorschreiben, an was sie zu denken hatte? Außerdem war sie richtig müde. Und eigentlich wollte sie schlafen.
Die Mutter lag immer noch regungslos auf dem Teppich. Helen rief den Notarzt, die Mutter wurde mitgenommen. Sie kam auf die Intensivstation. Es stand schlecht um sie. Eine Überdosis. Krankenbesuche. Sie überlebte. Jeden Tag dreimal Krankenbesuche. Helen rief ihren Vater in Kanada an. Helen regelte, dass die Mutter in eine Entzugsklinik kam.
Ein paar Tage später, Helen hatte die Mutter gerade in der Rehab besucht und kam zurück zur Wohnung, da wartete der Dealer ihrer Mutter auf sie. Zu zweit kamen sie hinter ihr die Treppe hoch und als sie die Wohnungstür öffnete, drängten beide sich hinter sie und stießen sie hinein, zogen die Tür von innen zu. Dann ging der Dealer auf Helen los, bedrohte sie.
„Deine Mutter schuldet mir noch Geld“, sagte er.
Der andere durchsuchte inzwischen die Wohnung nach Kreditkarten und Wertsachen.
Helen war wütend auf diesen Mann, der aus ihrer Mutter ein Wrack gemacht hatte. Ihre Wut und ihr Zorn waren größer als ihre Angst, und deshalb verriet sie die Passwörter nicht.
Bedrohung, Gewalt, Schmerz , alles was irgendwann aufhörte. Dann breitete sich Licht aus, und Helen flog auf einem goldenen Strahl durch einen Tunnel auf ein noch größeres helleres Licht zu, das verlockend in naher Ferne schimmerte und in Sternen-Helligkeit explodierte.
Das, was danach kam, waren nur noch schemenhafte aber sehr angenehme Erinnerungen in ihrem Kopf, die sie seit ihrer Ankunft hier am Traumstrand zu entwirren versuchte, um eine Ordnung hineinzubringen, so etwas wie einen chronologischen Ablauf.
Dagegen war jetzt die zeitliche Reihenfolge der Bilder ihres Londoner
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