Chaosprinz Band 1
Stimme.
»Happy Birthday.«
Dann ist er in der Dunkelheit verschwunden.
4. Kapitel
In dem ich eine Taube trete
»Fahren Sie auch nach München?«
Ich schaue den älteren Herren an, der sich gerade neben mich gesetzt hat.
»Ja.« Ich nicke und versuche, höflich zu lächeln, obwohl ich viel lieber noch eine Runde heulen würde. Nein, auf Smalltalk habe ich gerade überhaupt keine Lust. Die letzten zwei Wochen waren geprägt von Abschiedsschmerz und Aufbruchsstimmung. Ma und ich hatten eine Menge zu tun, schließlich mussten wir unseren gesamten Hausrat auflösen.
Unsere Familie half uns, wo sie nur konnte. Doch ihre Hauptaufgabe bestand darin, uns zu trösten, wenn irgendeine Schaufel, eine selbstgebastelte Laterne oder ein getöpfertes Andenken wieder mal Erinnerungen und Tränen heraufbeschworen hatten.
Ma und ich versuchten recht erfolglos, unsere Trauer voreinander zu verbergen. Doch obwohl wir beide relativ begabte Schauspieler sind, konnte unsere aufgesetzte Euphorie niemanden täuschen. Die Wahrheit war nur allzu offensichtlich: Wir hatten höllische Angst vor der Trennung.
Und jetzt sitze ich hier, im ICE 23400 auf der Fahrt von Hamburg-Altona nach München-Hauptbahnhof. Zusammen mit Rosmarie und Walter Pfauenbein. Rosmarie hasst es, mit dem Zug zu fahren. Aber Fliegen hasst sie noch mehr. Genauso wie kilometerlange Staus auf der Autobahn. Überhaupt hasst sie es, zu warten oder sich zu verspäten oder…
Man sollte nicht glauben, was ich nach gerade mal fünfzehn Minuten in der Gesellschaft des Ehepaars Pfauenbein alles erfahren habe. Gerade erzählt sie von einem Urlaub auf Teneriffa. »Viel zu heiß und überall diese Ausländer…«
Meine Gedanken schweifen ab. Wieder muss ich an Ma denken, wie sie zusammen mit den anderen am Bahnsteig gestanden hat. Tina und Mario sind natürlich auch gekommen. Sie haben ein großes Plakat gemalt, das sich nun zusammengerollt in der Gepäckablage über mir befindet.
Der Abschied ist tränenschwer gewesen. Unter Tausend Liebesschwüren und Versprechungen habe ich meinen Freunden Lebewohl gesagt. Man redet viel, wenn man sich verabschiedet. Viele unnütze Worte, die das Schweigen verdrängen sollen. Denn im Schweigen ruhen die wahren, die ernsten Gedanken…
Alle Menschen, die mir etwas bedeuten, sind da gewesen. Naja, fast alle…
Seit dem Abend vor zwei Wochen habe ich nichts mehr von Kim gehört. Als ich morgens aufwachte und aus dem Fenster sah, stand sein Golf schon nicht mehr vor dem Haus seiner Eltern. Ich habe gehofft, irgendeine Nachricht von ihm zu bekommen, aber Pustekuchen. Schließlich ging ich selbst zum Nachbarhaus rüber und klingelte an der Eingangstür. Mit einer knappen Erklärung drückte ich seiner Mutter einen Zettel in die Hand. Meine Handynummer.
Nächtelang lag ich in meinem Bett zwischen halb gepackten Kisten und Kartons und dachte darüber nach, was ich falsch gemacht haben könnte. War der Kuss so schlecht gewesen? Im Grunde hatte ich ja gar keine großartige Gelegenheit gehabt, um auf seine Zärtlichkeiten einzugehen – dank Mas tatkräftiger Unterstützung…
Ob er sich überrumpelt gefühlt hatte? Aber der Kuss ging doch von ihm aus? Oder war dieser Kuss im Endeffekt wirklich nichts weiter als ein Geburtstagsgeschenk gewesen? Ein simples Geschenk. Ich hatte ihn darum gebeten und er hatte es mir geschenkt. Nicht mehr und nicht weniger. Ende der Geschichte. Aus und vorbei.
Das nagende Gefühl in meinem Bauch lässt mich innerlich zusammenzucken. Verdammt, es tut trotzdem weh…
»Und Sie? Was machen Sie in München?« Walter Pfauenbein sieht mich lächelnd an.
Hastig wende ich das Gesicht ab. Oh Gott, könnte mir mal bitte jemand erklären, warum alte Männer immer so eklig riechen müssen? Haben sie vielleicht Mottenkugeln in ihren Anzügen versteckt? Hat man als Rentner keine Zeit mehr für Hygiene, weil man den ganzen Tag die Vergehen der Nachbarn beobachten muss? Aber vielleicht können sie auch gar nichts dafür. Vielleicht fängt man ab einem bestimmten Alter einfach an zu stinken, so wie ein alter Käse.
»Junger Mann? Hallo, junger Mann, ich habe Sie gefragt, was sie in München machen wollen?«
Erschrocken zucke ich zusammen und lächle Walter dann sofort entschuldigend an. »Tut mir sehr leid, ich war gerade in Gedanken… äh, ich besuche meinen Vater.«
»Scheidungskind?« Der überhebliche Unterton in Rosmaries Stimme soll mir wohl Mitgefühl vermitteln.
Ich nicke kühl. Gleich wird sie sich darüber
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