Chaosprinz Band 1
auslassen, wie viel besser es doch früher gewesen ist. Ja, damals, als Mann und Frau noch an die ewige Liebe geglaubt und sich vor Gott geschworen haben, einander zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie scheide.
»Und dazu stehe ich auch. Bis dass der Tod! Jawohl, das haben wir uns geschworen. Nicht wahr, Walter, geschworen haben wir das. Und ich...«
Ich schaue aus dem Fenster. Vorsichtig lehne ich meine Stirn an die Scheibe. Sie ist kühl, genau wie das Zugabteil. Blöde Klimaanlage, ich hole mir bestimmt noch einen Schnupfen. Rosmarie redet und redet, ich nicke alle fünf Minuten, damit sie nicht gleich anfängt, über die unhöfliche Jugend von heute zu meckern. Naja, wäre mir eigentlich auch egal.
»Freuen Sie sich schon auf Ihren Vater?«, fragt sie und mustert mich scharf.
Keine Ahnung, freue ich mich? In den letzten zwei Wochen hat Ma drei Mal mit ihm telefoniert. Nach mir hat er dabei nie gefragt. Nur einmal haben wir ganz kurz miteinander gesprochen:
»Tobias Ullmann.«
»Äh… hallo, Tobias, hier ist Joachim. Ist deine Mutter gerade in der Nähe? Ich wollte ihr nur Bescheid geben, um welche Uhrzeit die Umzugsleute bei euch eintreffen.«
»Ja, klar, einen Moment bitte, ich sage ihr Bescheid. Tschüss.«
»Tschüss.«
Naja, als Gespräch kann man das nun wirklich nicht bezeichnen. Um ehrlich zu sein, ich habe ein bisschen Angst davor, ihm zu begegnen. Es ist ja nicht so, dass ich mich mit ihm treffe, wir eine Stunde quatschen und ich ihn, falls wir uns nicht leiden können, nie wieder sehen muss. Nein, ich werde bei ihm leben – bei ihm und seiner Familie.
»Ja, äh, ich freue mich sehr.«
Mein Vater und seine neue Frau Bettina wohnen gemeinsam mit ihren vier Kindern in einem noblen Münchner Stadtteil. Bettinas Sohn Alexander ist so alt wie ich, ihre Tochter Maria ist zwei Jahre jünger und die Zwillinge Tim und Emma sind gerade fünf geworden. Hm, was weiß ich noch über die Familie Ziegler? Richtig: Nix. Schon traurig, irgendwie…
Aber das wird sich ja bald alles ändern. Bald lerne ich sie kennen. Ich spiele mit den Kleinen, quatsche mit Maria über Jungs, gehe mit Alexander auf Partys und rede mit Joachim und Bettina über Gott und die Welt. Genauso, wie man es eben in einer richtigen Familie macht… ja…
Als wir endlich nach über fünf Stunden Zugfahrt im Münchner Hauptbahnhof einfahren, macht mein Herz bereits Überstunden. Mit feuchten Händen sammle ich meine Sachen ein und verstaue sie in der Umhängetasche. Um mich herum herrscht Hektik. Alle haben es entsetzlich eilig. Die Leute machen den Eindruck, als würden sie am liebsten direkt aus dem fahrenden Zug springen.
Viel zu langsam rollen wir im Bahnhof ein. Da sind viele Menschen auf dem Bahnsteig. Manche haben Blumensträuße in der Hand und ich kann sogar ein paar Plakate sehen. Ob da wohl auch eins für mich dabei ist?
Krampfhaft versuche ich, ein vertrautes Gesicht in der Menge zu entdecken. Schwachsinn, wie soll ich denn Menschen erkennen, denen ich vorher noch nie begegnet bin? Und mein Vater… Werde ich wissen, dass er es ist, wenn er plötzlich vor mir steht? Was für ein Gefühl wird das wohl sein? Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen. Verdammt, bin ich nervös.
Quietschend und ruckelnd kommt der ICE endlich zum Stehen. Das Zischen der Bremsen ist noch nicht richtig verklungen, da springen die Ersten auch schon aus der Bahn. Ich sitze immer noch, lasse alle an mir vorbeiziehen und starre aus dem Fenster.
Plötzlich habe ich Angst. Schreckliche Angst. Noch nie zuvor in meinem gesamten Leben habe ich mich so alleine gefühlt. So wahnsinnig verloren. Ich lehne mich im Sitz zurück und presse meine Tasche eng an mich. Ich will nicht aussteigen, hab's mir anders überlegt. Ich will zurück nach Hamburg, will zu meiner Ma…
Scheiße, Tobi, wie alt bist du eigentlich? Fünfeinhalb? Werde endlich erwachsen, du verdammtes Baby! Seufzend erhebe ich mich, lege mir den Gurt der Tasche um die Schulter und hieve den schweren Koffer von der Gepäckablage herunter. Dann reihe ich mich in die Schlange der Wartenden ein.
Es dauert, bis ich endlich den Bahnsteig betreten kann. Zwei ältere Damen vor mir haben etwa eine Dreiviertelstunde gebraucht, ein Bein vor das andere zu setzen. Und dann bleiben die alten Schreckschrauben auch noch mitten vor der Tür stehen, sodass ich mich um sie herumkämpfen muss. Ich gehe einige Schritte, um dem Pulk von Menschen zu entkommen.
Hier draußen herrscht dieselbe Hektik wie eben
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