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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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Hunderttausende zum Opfer fielen und die Millionen zur Auswanderung zwang, rief das den großen Sozialreformer nicht auf den Plan. Zu tief war seine Ablehnung der katholischen Kirche verinnerlicht, als dass er sich für das Leid irischer Katholiken hätte erwärmen können. Ähnlich zwiespältig war seine Haltung gegenüber der Reform des Wahlrechts. Er unterstützte zwar die ersten beiden Reformgesetze, die das Wahlrecht der Männer ausweiteten, doch das der Frauen interessierte ihn nicht. Ökonomisch begrüßte er den industriellen Fortschritt, zeigte aber zugleich die Verwüstungen, die die Industrie anrichtete. Er geißelte die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Fabriken, sah aber im Arbeitskampf der Gewerkschaften nur einen anderen Ausdruck des fantasiefeindlichen kapitalistischen Systems.
    Als Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen blieb er gefühlsmäßig auf der Seite der Unterschicht, doch ein ebenso starkes Gefühl trieb ihn an, sich mit der Gentry zu identifizieren. Bezeichnend dafür ist der Erwerb seines Landsitzes Gad’s Hill, von dessen Besitz er bereits als Kind geträumt hatte. In seinen letzten Jahren führte er das Leben eines typischen englischen Landedelmanns, während er gleichzeitig seine Nähe zum gemeinen Volk betonte. In einer Rede, die er im September 1869 hielt, prägte er den vielzitierten Satz: «Mein Vertrauen in die Regierenden ist, aufs Ganze gesehen, unendlich klein (
infinitesimal
). Mein Vertrauen in das regierte Volk ist, aufs Ganze gesehen, unendlich groß (
illimitable
).»
    Doch diese Worte kamen aus dem Munde eines Mannes, der ein tiefes Misstrauen gegenüber jeder aufgewiegelten Menge hegte, wieseine beiden historischen Romane erkennen lassen. In einem Brief, den er am 31. Januar 1852 an Macready schrieb, nimmt er zur Stempelsteuer Stellung. Wie bereits erwähnt, hatte man im 18. Jahrhundert aus Angst vor aufrührerischen Schriften eine Papiersteuer eingeführt, durch die legale Tageszeitungen für das einfache Volk unerschwinglich wurden. Die Steuer wurde später schrittweise gesenkt, aber erst 1855 abgeschafft. In seinem Brief sieht Dickens in der Abschaffung zwar einen Vorteil für seine eigene Zeitschrift, doch was Tageszeitungen betrifft, spricht er sich für die Beibehaltung der Steuer aus, da sie dem «übereilten, hastigen Publizieren schurkischer Zeitungen» entgegenwirke.
    Besonders deutlich zeigt sich Dickens’ viktorianisches Kompromisslertum auf religiösem Gebiet. Jedem seiner Söhne gab er, als sie sein Haus verließen, einen Brief mit väterlichen Ratschlägen und ein Neues Testament mit. In diesen Briefen ermahnt er sie, hart zu arbeiten, keine Schulden zu machen und regelmäßig in den Evangelien zu lesen. Er erinnert seine Söhne daran, dass er sie nie zu regelmäßigem Kirchgang oder zur Einhaltung religiöser Riten angehalten habe, aber er rät eindringlich dazu, sich an Christi Gebote zu halten und jeden Morgen und Abend zu beten, so wie er selber es stets getan habe. Dickens hat seine antiklerikale, auf den ethischen Kern reduzierte Vorstellung vom Christentum in seinen Romanen immer wieder indirekt und in seiner Nacherzählung des Neuen Testaments, die er für seine Kinder schrieb, auch direkt zum Ausdruck gebracht. Christentum bestand für ihn in der ethischen Botschaft der Bergpredigt und im Glauben an die Erlösung. Das entsprach in Grundzügen der Lehre der Unitarier, denen er zeitweilig nahestand, bevor er sich von ihnen wegen sektiererischer Tendenzen und zunehmender Frömmelei wieder abwandte. Zur unitarischen Lehre, die die Trinität ablehnte und in Jesus den exemplarischen Menschen sah, bekannten sich viele liberale Politiker und Intellektuelle jener Zeit.
    Was hier über Dickens’ Kompromisslertum gesagt wurde, legt einen Grauschleier auf die Strahlenkrone, die er sich in der Öffentlichkeit durch seine karitativen Aktivitäten erworben hatte. Das Grau wird noch stärker, wenn man sich daran erinnert, was über sein Testament gesagt wurde. Dass er unglaublich viel Zeit und Arbeitskraft, aber kaum jemals eigenes Geld für philanthropische Unternehmungen hergab,wurde schon von seinen Zeitgenossen mit Verwunderung bemerkt. Der hässlichste Fleck auf seinem Schild ist aber sein Verhalten der eigenen Frau gegenüber, die er nicht nur verließ, sondern förmlich verstieß, wobei er sich nach einer kurzen Phase eigener Schuldgefühle auf eine selbstgerechte Position versteifte, für die er dann auch noch von seinen Freunden Zustimmung

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