Charles Dickens
einforderte. Das macht es schwer, für ihn die gleiche Verehrung zu empfinden, die zu seinen Lebzeiten seine Leser und schließlich die ganze Nation bekundeten.
Als öffentliche Person vereinte Dickens in sich ein Konzentrat all der Kompromisse, die den ideologischen Kern der viktorianischen Gesellschaft ausmachten und die deren latente Widersprüche im Gleichgewicht hielten. Schaut man aber hinter die Kulisse seines Lebens, findet man keinen Menschen im Gleichgewicht, sondern einen Gehetzten. Dickens war sein Leben lang auf der Flucht vor der traumatischen Erinnerung an den Moment seiner tiefsten Erniedrigung, als er als Kind in der Schuhwichsfabrik arbeiten musste und keine Aussicht auf höhere Bildung mehr zu haben schien. Selbst dann noch, als er Einkünfte erzielte, die den Honoraren heutiger Filmstars vergleichbar sind, äußerte sich bei ihm immer wieder die latente Angst, seinen finanziellen Verpflichtungen nicht mehr gerecht werden zu können.
Das Trauma erklärt, weshalb er in seinen Romanen mit obsessiver Beharrlichkeit immer wieder Helden zeigt, die von einer Vergangenheit verfolgt werden und diese als eine Fremdbestimmung erleben, von der sie sich emanzipieren müssen. Nähme man aus seinen Romanen das sentimentale Pathos und den skurrilen Humor heraus, so bliebe etwas übrig, was in der Tat viel eher an Kafka als an die viktorianischen Zeitgenossen erinnert. Vor allem in den späten Romanen ist Fremdbestimmung das zentrale Thema, so in
Bleak House
, wo Richard Carstone in das Labyrinth des Kanzleigerichtshofs einzudringen versucht wie Kafkas K. in das Schloss, oder in
Little Dorrit
, wo das
Circumlocution Office
an den gleichen Roman erinnert. In
Eine Geschichte zweier Städte
denkt man an Kafkas
Prozess
, wenn Charles Darnay für eine Schuld zur Verantwortung gezogen wird, von der er nichts weiß und mit der er nichts zu tun hatte. Selbst in
Harte Zeiten
findet sich für Slearys Pferdezirkus eine Parallele im «Naturtheater von Oklahoma» in Kafkas Erstling
Der Verschollene
, den dieser selbst als «glatte Dickensnachahmung» bezeichnete.
Auch der Vergleich mit dem anderen Repräsentanten der Moderne,den Edmund Wilson anführte, nämlich mit James Joyce, ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Wie Joyce war Dickens ein Erbauer kunstvoller Labyrinthe. Joyce hatte sich sogar den antiken Labyrinthbauer Dädalus zum
alter ego
erkoren. In seinem ersten Roman
Portrait of the Artist as a Young Man
heißt der Held Stephen Dedalus. Wenn man sich an die griechische Sage erinnert, gewinnt diese Namensgebung ihren tieferen Sinn. Dädalus hatte einst für die kretische Königin Pasiphaë, die sich in einen Stier verliebte, eine Kuhattrappe bauen müssen, mit deren Hilfe sie sich dem Stier hingeben konnte. Frucht des widernatürlichen Aktes war der Minotaurus, dessen Wildheit sich nur dadurch bändigen ließ, dass er in das von Dädalus gebaute Labyrinth eingesperrt wurde. Irland war in den Augen von Joyce die Kuh, die von John Bull, dem englischen Stier, vergewaltigt wurde und danach eine anglo-irische Wechselbalgkultur hervorbrachte, die Joyce in seinem labyrinthischen Roman
Ulysses
einzufangen versuchte. Auch Dickens’ Romane sind große Labyrinthe, in denen alles mit allem zusammenhängt. Doch anders als Joyce geht es ihm nicht darum, etwas einzufangen. Im Gegenteil, es geht darum, dass seine Helden sich aus dem verborgenen Labyrinth befreien müssen, indem sie es aufdecken.
Das Emanzipatorische dieser Befreiungsakte rückt Dickens wieder weg von Kafka und hin zu Ibsen, bei dem solche Akte im Zentrum stehen. Eine Nähe zu Kafka bleibt dennoch; denn während Ibsens Figuren ihre Emanzipationsleistung im Kontext einer verstehbaren sozialen Umgebung vollbringen oder daran scheitern, leben Dickens’ Figuren in einer kaum durchschaubaren Welt. Auch wenn man ihm eine Tendenz zur Idylle vorwerfen kann, ist die Lösung in seinen Romanen alles andere als eine Flucht in einen windstillen Winkel. Erst die Aufdeckung und innere Bewältigung des ererbten Schicksalsnetzes erlaubt es seinen Helden, sich in den sicheren Hafen zurückzuziehen. Um diesen «modernen» Kern seines Werkes zu erkennen, muss man allerdings erst einmal über das hinwegsehen, was schon seine anspruchsvolleren Zeitgenossen an ihm tadelten, nämlich seine Sentimentalität und das Pathos, mit dem er an das Mitleid appelliert und moralische Botschaften verkündet. Das Ausblenden dieser störenden Elemente reicht aber noch nicht aus; man wird dann immer
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