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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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noch das vermissen, was ebenfalls schon von Zeitgenossen als fehlend beklagt wurde: eine differenzierte Psychologie. Nicht nur seinen komischen Figuren, deren flache Charakterzeichnungman gern verzeiht, weil sie gerade dadurch zu unsterblichen Sonderlingen werden, sondern auch den problematischen Charakteren fehlt ein tieferes Seelenleben, allerdings nur auf der Ebene der realistischen Wirklichkeitsdarstellung. Hinter oder unter dieser Ebene gibt es das, was Dickens’ wahre Kunst ausmacht, nämlich eine die Handlung begleitende symbolische Bilderwelt, in der die Charakterprobleme als etwas Allgemeinmenschliches sichtbar werden.
    Wenn man in Dickens’ autobiographischem Fragment liest, wie er selbst noch auf der Höhe seines Ruhms von der Erinnerung an seine tiefste Erniedrigung in der Schuhwichsfabrik gequält wurde und sich dann wieder wie ein verlassenes Kind fühlte, liegt es nahe, in der baufälligen Fabrik an der Themse die Keimzelle jener obsessiv wiederkehrenden symbolischen Trias von Gefängnis, Wasser und Erbschaft zu sehen, wobei die Erbschaft eben in der unauslöschlichen Erinnerung bestand. Diese Fixierung auf das Kindheitstrauma gibt seiner Persönlichkeit einen Zug von Unreife, seinem Werk aber gab sie den Lebensnerv.
    Wie Shakespeare aus dem gipfelreichen Massiv der elisabethanischen Dramatiker, so ragt Dickens aus dem ebenso gipfelreichen Massiv viktorianischer Romanautoren heraus. Dass er von allen der originellste war, wurde ihm bereits zu seinen Lebzeiten nahezu einhellig bescheinigt. Doch als größter galt er damit noch nicht. Bei Kritikern und Schriftstellerkollegen mischte sich in das Lob, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast immer der Tadel, dass er den hohen Kunstanspruch auf dem Altar der Popularität geopfert habe. Als sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zum Teil unter dem Einfluss französischer und später auch russischer Vorbilder, immer mehr die Poetik des Realismus durchsetzte, wurde Dickens von der Kritik zuerst hinter Thackeray und später auch hinter George Eliot zurückgestuft.
    Diese Tendenz hielt bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts an. Zwar fand Dickens auch immer wieder glühende Bewunderer und Verehrer wie z.B. Gilbert Keith Chesterton, der unermüdlich Dickens’ Lob verkündete, doch der Tenor der Kritik war eher der, dass Thackeray der größere Künstler und George Eliot die modernere Realistin sei. Davon ließen sich die Kritiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbst dadurch nicht abbringen, dass den beiden Konkurrenten inzwischen bloß noch die Patina von Klassikern anhaftete, während Dickens’ Werke ihre Frische bewahrt hatten.
    Thackeray, den manche Kritiker auch heute noch für den bedeutenderen Autor halten, hat wenig Modernität zu bieten, es sei denn, man sieht in seiner ironisch-satirischen Darstellung der Gesellschaft eine darwinistische Welt, in der Charaktere wie Becky Sharp aus
Vanity Fair
ihren Kampf ums Dasein führen. Noch weniger Modernität findet sich bei George Eliot, die in ihren Romanen zu zeigen versucht, wie Menschen von der Gefahr der sozialen Entwurzelung bedroht sind, der sie nur durch Kommunikation und soziale Integration entgehen können. Das entspricht der viktorianischen Ideologie. Auch der dritte Rivale, Anthony Trollope, der oft unterschätzt wird, hat nichts Modernes. Mit seinen rund fünfzig Romanen, in denen er wie ein viktorianischer Balzac das soziale Panorama seiner Zeit aufrollte, spiegelte er seine Welt nur, ohne über sie hinauszugehen. Dickens hingegen zeigt Menschen, die in einer abweisenden, labyrinthischen Welt leben, in der sie sich nicht durch Integration, sondern nur durch Emanzipation behaupten können. Das entspricht weit eher dem Bild des existentiell geforderten Menschen, wie es die moderne Literatur zeigt.
    Zu Dickens’ 100. Todestag hätte man Thackeray, George Eliot und Trollope noch mit dem damals modischen Begriff «affirmativ» belegen können. Heute gelten die drei als ansehnliche englische Klassiker, aber kaum als solche der Weltliteratur, während Dickens unzweifelhaft dazu gehört. Er nimmt diesen Rang ein, weil er die bloße Affirmation der bestehenden Gesellschaft, die in seinem sozialreformatorischen Engagement eigentlich angelegt war, in seinen Romanen verweigert und statt dessen Menschen zeigt, die sich gegen eine integrationsfeindliche Welt behaupten müssen. Zwar predigt er das Ethos der Mitmenschlichkeit, doch er zeigt keine heile, nicht einmal eine heilbare Welt, sondern setzt

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