Charles Dickens
Jasper eine extreme Bewusstseinsspaltung zu zeigen, hatte er natürlich die Möglichkeit, Edwin Drood am Leben zu lassen. Denn es wäre durchaus glaubhaft, wenn Jasper sich im Rauschzustand den Mord entweder nur einbildet oder ihn nicht vollständig ausführt, danach aber überzeugt ist, ihn begangen zu haben.
Die letzte Manuskriptseite von
The Mystery of Edwin Drood.
In diesem Fall wäre er der psychologisch interessanteste aller Dickens-Charaktere. Er wäre dann gewissermaßen das düstere Gegenstück zu Sydney Carton, der sich für seinen glücklichen Rivalen und Doppelgänger opfert, während Jasper seinen Rivalen vernichten will, um seine Rolle zu übernehmen. Bei einer solchen Lösung hätte Dickens bei seinem Grundmuster bleiben können: Er hätte Edwin, der sich schon vorher von seiner «Erbschaft» gelöst hatte, am Leben lassen und den des Mordversuchs überführten Jasper nach reuevoller Einsicht in sein Verbrechen sterben lassen können, wobei auch Jasper ein moralisches Regenerationserlebnis hätte durchmachen können, ähnlich dem von Magwitch in
Große Erwartungen.
Für keinen Lösungsvorschlag gibt es zwingende Argumente. Gewiss ist nur, dass die Spekulationen um Droods Geheimnis nie aufhören werden.
Dickens’ Testament
Am 22. Juli, sechs Wochen nach Dickens’ Tod, veröffentlichte die
Times
sein Testament. Deutlicher hätte sich kaum zeigen lassen, dass dieser Autor vollständig zur öffentlichen Person geworden war. Das Dokument beginnt mit einer Verfügung, die bei allen Bewunderern und Verehrern außerhalb des engsten Kreises Irritation hervorrufen musste: Als erste, mit einem Legat von 1000 Pfund bedachte Person wird Ellen Lawless Ternan genannt, die Frau, die er zwölf Jahre lang mit allen Mitteln vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten hatte. Es folgen Legate von jeweils 19 Pfund und 19 Shilling für seine Hausangestellten. Das nächste größere Vermächtnis sind 1000 Pfund für Tochter Mary, zuzüglich einer Jahresrente von 300 Pfund, solange sie unverheiratet ist. Seiner Schwägerin Georgina hinterlässt er 8000 Pfund sowie seine persönlichen Wertsachen und alle privaten Papiere. Seinem ältesten Sohn Charles vermacht er seine Bibliothek, alle Stiche und Drucke sowie einige persönliche Andenken. Außerdem gehen an die in England lebenden Söhne Charles und Henry 8000 Pfund, die sie investieren und die Zinsen der Mutter zu ihren Lebzeiten auszahlen sollen. John Forster hinterlässt er alle Manuskripte seiner Werke.
Für das Hauptvermögen setzte er Georgina und Forster als Treuhänder ein mit dem Auftrag, den Besitz nach Abzug aller Kosten und Lasten zu gleichen Teilen an die Kinder nach deren Volljährigkeit zu übergeben. Darüber hinaus werden Forster und Georgina als Vollstrecker für das gesamte Testament eingesetzt. In einem Kodizil, das dem Testament angefügt war, wird Sohn Charles zum Erben von Dickens’ Anteil an der Zeitschrift
All the Year Round
bestimmt.
Das hinterlassene Gesamtvermögen belief sich auf rund 93.000 Pfund. Bedenkt man, dass das Jahreseinkommen eines damaligen Industriearbeiters zwischen 40 und 70 Pfund lag, so belief sich Dickens’ hinterlassenes Vermögen auf das mehr als Tausendfache eines durchschnittlichen Jahreseinkommens, d.h. nach heutigem Geld auf einen zweistelligen Millionenbetrag.
John Forster. Fotografie.
Angesichts von Dickens’ unermüdlichem Einsatz für Wohltätigkeitsunternehmungen mag es verwundern, dass er keiner der Stiftungen, für die er gearbeitet hat, eine Spende zukommen ließ. Hier zeigt sich zuletzt noch einmal jener eigentümliche Zwiespalt von Besitz und Einsatz, der sein ganzes Leben beherrschte. Eigentumsrechte verteidigte er unnachgiebig bis ins Letzte, seine Arbeitskraft hingegen setzte er großzügig ein, wo immer sie für etwas oder jemanden erforderlich oder zumindest nützlich war. Das entsprach der traumatischen Erfahrung, die er als Kind gemacht hatte. Nicht genug Geld zu haben, war für ihn lebensbedrohendes Unheil. Sich nicht genug anzustrengen, war für ihn Versagen schlechthin, wie er es bei seinem Vater und seinen Brüdern erlebt und bei seinen Söhnen ständig befürchtet hatte. Was er aber auch nicht billigte, war, nur für Geld zu arbeiten. So wurden seine philanthropischen Aktivitäten für ihn zur Rechtfertigung seines materiellen Gewinnstrebens.
Georgina Hogarth (1873). Daguerreotypie.
Nachdem Georgina sich lange genug dem Verdacht ausgesetzt sah, ein Liebesverhältnis mit ihrem Schwager zu
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