Charles Dickens
unterhalten, hatte sie nun die öffentliche Genugtuung, für ihren selbstlosen Einsatz im Haus des berühmten Dichters nicht nur materielle, sondern als Testamentsvollstreckerin auch ideelle Anerkennung zu bekommen.
Dass Ellen Ternan demgegenüber nur 1000 Pfund erhielt, bedeutet dennoch ein stattliches Legat; denn immerhin hatte ihr Dickens vorher ein Haus gekauft, mit dem sie Mieteinnahmen erzielte. Außerdem gibt es unter seinen Kontoauszügen zwischen Juni 1868 und Juni 1870 Überweisungen in Höhe von 565 Pfund an eine gewisse Miss Thomas, hinter der Ellen Ternan vermutet wird. Gerüchte über sein Verhältnis zu ihr müssen auch damals bereits kursiert haben. Doch Dickens hatte zu seinen Lebzeiten in der Öffentlichkeit einen so hohen moralischen Status erlangt, dass er für Schmutzkampagnen unantastbar war. Erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode wurde seine Affäre publik. Inden 20er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte sie seinem Ruf nicht mehr schaden. Im Gegenteil, jetzt weckte sie neues Interesse an ihm und befreite ihn vom Mief viktorianischer Wohlanständigkeit.
In seinem Testament verfügte Dickens außerdem, dass ihm kein Denkmal gesetzt werden solle. Daran hat sich sein Heimatland gehalten. In der englischsprachigen Welt gibt es angeblich nur zwei Denkmäler. Das eine, das 1891 von Edwin Elwell in Bronze gegossen wurde, steht im Clark Park von Philadelphia in den USA, das andere stand im Centennial Park in Sydney, Australien. Dort wurde es 1988 von Vandalen beschädigt, worauf man es in ein Depot brachte.
Epilog
Anlässlich von Dickens’ 100. Todestag wurde in der deutschen Presse zwar auf amerikanische Literaturkritiker verwiesen, die für den Viktorianer Modernität reklamierten und ihn in einem Atemzuge mit Kafka und Joyce nannten, doch das vorherrschende Bild blieb hierzulande weiterhin das des sozialkritischen Humoristen, dem die Patina eines Klassikers anhaftete. Es ist zu befürchten, dass der 200. Geburtstag im Zeitalter der Postmoderne noch weniger zu einer Neubewertung führt. 1970 konnte man Dickens noch als engagierten Autor lesen, was dem damaligen Anspruch an moderne Literatur entsprach. Doch heute werden postmodern geprägte Leser in ihm all das vermissen, was seitdem zu literarischen Wertkriterien geworden ist. Selbstreferentielles Changieren zwischen Fiktion und Wirklichkeit, formale Gebrochenheit, Respektlosigkeit gegenüber tradierten Normen und das pluralistische Spiel mit disparaten Lebens- und Weltentwürfen – all diese typischen Merkmale der Postmoderne sucht man bei ihm vergebens.
Dickens brachte das Kunststück fertig, der viktorianischen Gesellschaft ihre Mängel um die Ohren zu hauen und sich gleichzeitig mit ihr vollständig zu identifizieren. Wie kein anderer Autor seiner Zeit unterhielt er ein quasi-symbiotisches Verhältnis zu seinem Publikum. Das heißt nicht, dass er ihm nach dem Munde redete. Gewiss, er vermied es, das Schamgefühl prüder Leser zu verletzen, und er propagierte nur solche Werte, die allgemein anerkannt wurden, doch er tat dies nicht als zynischer Sykophant der breiten Mittelschicht, sondern weil er sich als deren Sprachrohr empfand. Dass er dabei die Heuchelei der Gesellschaft anklagen konnte, ohne selber heucheln zu müssen, lag daran, dass das viktorianische England durchaus nicht der monolithische Block aus Prüderie, Selbstgerechtigkeit, imperialistischem Machtstreben und kulturell verbrämtem Materialismus war, als der es in den Augen der Nachwelt oft erscheint. Das gesellschaftliche Bewusstsein der Epoche war tief gespalten. Es schwankte politisch zwischen Liberalismusund Imperialismus, sozial zwischen Verlangen nach Demokratie und Angst vor dem Pöbel, kulturell zwischen Modernität und Nostalgie, ökonomisch zwischen Industrialisierung und romantischer Gartenkultur und religiös zwischen Aufklärung und christlicher Tradition.
Alle diese Widersprüche kamen in Dickens zusammen. Er hielt sich bis zu seinem Tod für einen Radikalen auf der Seite der Liberalen, und doch stieß er, wie Briefzeugnisse belegen, ins imperialistische Horn, als sein eigener Sohn gegen aufständische Inder kämpfen musste. Er setzte sich unermüdlich für Reformen des Schulsystems, des Gefängniswesens und der Armenfürsorge ein, doch das größte Übel seiner Zeit, die brutale Unterdrückung der Iren durch die englische Herrschaft, ignorierte er nahezu ganz. Selbst als die 1845 ausgebrochene Kartoffelfäule in Irland eine Hungersnot auslöste, der
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