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Charles Dickens

Charles Dickens

Titel: Charles Dickens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Dieter Gelfert
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seine Helden, vor allem in den späten Romanen, einer Gesellschaft aus, die durch ein gegenseitiges Verfolgen und Belauern gekennzeichnet ist. Darin liegt seine latente Modernität. Doch seine Größe als Dichter beruht vor allem auf seiner Fähigkeit, seine Sicht der
conditio humana
auf eine quasi-musikalische Weise in Bildsequenzen umzusetzen, an denen das abzulesen ist, was seine realistischeren Konkurrenten psychologisch zum Ausdruck bringen oder explizit aussagen.
    Als 1872 der erste Band von Forsters Dickens-Biographie erschien, schrieb George Henry Lewes, der Lebensgefährte George Eliots, der zeitweilig mit Dickens freundschaftlich verkehrte, eine Rezension, inder er ein kritisches Urteil fällt, das sich als Vorurteil bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts halten sollte. In diesem Aufsatz, der im Februar 1872 unter dem Titel
Dickens in Relation to Criticism
in der Zeitschrift
Fortnightly Review
erschien, attestiert er dem Erzähler zwar
imagination all compact
, «Einbildungskraft in Fülle», doch dieses Zitat stammt aus der Rede des Herzogs Theseus in Shakespeares
Sommernachtstraum
, die mit der Zeile beginnt: «Des Dichters Aug’, in schönem Wahnsinn rollend …» In Lewes’ Augen war Dickens ein Dichter, der Fantasie im Übermaß hatte, dem aber etwas Wesentliches fehlte: «Dickens ist das einzigartige Beispiel eines Dichters, dessen Empfindungen niemals zu Ideen wurden.» Dieses Urteil wurde lange Zeit von vielen geteilt.
    Im Vorwort des vorliegenden Buches wurde gesagt, dass Dickens nach Shakespeare und Dr. Johnson der dritte in der englischen Literatur sei, dessen Name für eine ganze Epoche stehe. Shakespeare und Dr. Johnson gelten als die meistzitierten englischen Autoren; denn bei ihnen wurden die «Empfindungen» zu «Ideen», denen sie – um es ebenfalls mit einem Zitat aus jener Rede im
Sommernachtstraum
zu sagen – ein «Haus zu wohnen drin und einen Namen» gaben. Von Dickens gibt es zwar ebenfalls unzählige Zitate, aber darunter sind keine Sentenzen, in denen sich eine tiefe Lebensweisheit sprachlich auskristallisiert hat. Vielmehr sind es Aussprüche, mit denen die Erinnerung an eine unvergessliche Figur oder eine atmosphärisch aufgeladene Szene herbeizitiert wird. Das Erfinden solcher Figuren und Szenen war es, was Dickens «unnachahmlich» machte. Doch seine wahre dichterische Größe gewinnt er erst durch die Einbettung seiner Geschöpfe in einen symbolischen Bilderfluss, der an Raffinesse zwar nicht an Joyce heranreicht, ihn aber an mythenbildender Kraft übertrifft. Das Fehlen zitierbarer «Ideen» hört dann auf ein Mangel zu sein, wenn man Dickens’ Werke nicht ausschließlich als Sprachdichtungen, sondern als Wort-Opern und symbolische Bilderfolgen liest. Dann wird man darin ebensowenig nach Wortzitaten suchen wie in Rembrandts Bildern oder in Mozarts Musik. Der Vergleich mit Musik liegt schon deshalb nahe, weil er die besten seiner Romane wie große Opern mit einer symbolischen Ouvertüre beginnen lässt.
    Dickens ist oft mit Shakespeare verglichen worden, doch meist mit abwertenden Einschränkungen, was aber auch dann noch Anerkennung bedeutete. So nannte beispielsweise der mit Thackeray, Carlyleund Tennyson befreundete anglo-irische Autor Edward Fitzgerald, der durch die Übersetzung von Omar Kayyams
Rubaiyat
berühmt wurde, Dickens einen «kleinen Shakespeare, einen Cockney-Shakespeare, wenn man so will». Darin liegt ein Körnchen Wahrheit. Denn wenn sich die beiden Dichter auch in ihrer produktiven Fantasie gleichen, unterscheiden sie sich doch darin, dass Shakespeare seine Figuren unparteiisch aus souveräner Distanz, doch zugleich mit tiefem Blick in ihr Inneres zeigt, während bei Dickens die parteiische Sicht aus der
underdog
-Perspektive vorherrscht. Das nimmt seinem Blick die Tiefe. Abgesehen von dieser Einschränkung hat er mit dem Elisabethaner aber das vermeintlich Naturwüchsige gemein, das es den Kritikern im 17. und frühen 18. Jahrhundert schwer machte, sich mit Shakespeares Regellosigkeit abzufinden, selbst wenn sie ihn bewunderten. Allerdings war das, was Goethe und seine Zeitgenossen an dem Elisabethaner als «Natur, nichts als Natur» empfanden, in Wirklichkeit durchaus kein spontaner Erguss von Genie, sondern handwerklich vollendete, wirkungsbewusste Kunst. Das gilt auch für Dickens.
    Obgleich der Humor das ist, womit Dickens seine Leser von Anfang an gewann und immer noch gewinnt, haben Kritiker darin oft einen Mangel an Ernst und Tiefe gesehen.

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