Charles Dickens
Auch hier genügt ein Blick auf Shakespeare, um den Vorwurf zu entkräften. Wie in dessen Stücken ist auch in Dickens’ Romanen der Humor nicht Selbstzweck, sondern das Gegengewicht zum Ernst des Lebens, und wie bei Shakespeare gibt es bei ihm Figuren, über die man lacht, solche, mit denen man lacht, und solche, bei denen einem das Lachen vergeht. Doch während bei dem Elisabethaner am Ende der tragischen oder komischen Auflösung der Probleme das Leben auf einer unheroischen gesellschaftlichen Ebene weitergeht, setzt es sich bei dem Viktorianer in der zur Idylle tendierenden Privatsphäre fort. Das reflektiert die Tatsache, dass sich im elisabethanischen England die Macht gerade erst vom Hochadel zugunsten der Gentry zu verlagern begann, während unter Viktoria die untere Mittelschicht aufstieg, die in Dickens ihr Sprachrohr fand. Shakespeares Stücke enden allesamt mit der Wiederherstellung der sozialen Ordnung, nachdem die Störer der Ordnung gestürzt wurden. Für das elisabethanische Publikum bedeutete dieser Sturz kathartische Befriedigung. Dickens’ Romane enden damit, dass seine Helden sich von einer Fremdbestimmung befreien und sich auf sich selbst zurückziehen. Beiihm erscheint die gesellschaftliche und politische Sphäre als ein undurchschaubares, labyrinthisches System totaler Entfremdung.
«Dickens’ Traum». Unvollendetes Aquarell von Robert William Buss (1875).
Das ist ganz und gar nicht viktorianisch; denn um ihn herum verlangte das englische Bürgertums das Gegenteil, nämlich Teilhabe an der Macht, weshalb hier der Rückzug ins Biedermeierliche weit weniger stark ausgeprägt war als in Deutschland. Er dagegen zeigt eine Welt, in der sich die kleinen Leute dem gesellschaftlichen System hilflos ausgeliefert sehen. Dies Gefühl der Entfremdung ist seitdem immer mehr zum Lebensgefühl der Moderne geworden. Shakespeares Blick umfasste den sozialen Kosmos vom König bis hinunter zum Totengräber und ebenso den moralischen Kosmos von vernunftgeleitetem Handeln bis hin zu blinder Leidenschaft. Neben ihm erscheint der «Cockney-Shakespeare», der aus der Perspektive der kleinen Leute spricht und dessen Moralvorstellungen sich in dem engen Spektrum zwischen Selbstsucht und Selbstlosigkeit bewegen, als ein kleineres Licht am literarischen Firmament, doch an Leuchtkraft steht er dem größten Stern der englischen Literatur nicht nach.
ANHANG
Dickens’ Familie
Die Eltern
Der Vater JOHN DICKENS (1785/6–1851) entfaltete, nachdem er das Schuldgefängnis überstanden hatte und 1825 in den Ruhestand versetzt worden war, als Journalist durchaus Initiative; trotzdem kam er 1834 erneut wegen Schulden in Arrest und musste von seinem Sohn ausgelöst werden. Von 1845 bis zu seinem Tode arbeitete er als Koordinator der Zeitungsreporter für die
Daily News.
Dem Vater verdankte Dickens zum einen die Orientierung an der Kultur der Gentry, zum andern das negative Beispiel, aus dem er die Lehre zog, dass nur hartes gewinnbringendes Arbeiten den sozialen Absturz verhindern kann.
Die Mutter ELIZABETH (geb. Barrow; 1789–1863) überlebte ihren Mann um 12 Jahre. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in der Obhut einer verwitweten Schwiegertochter in einem Haus, das ihr Sohn für sie gemietet hatte. Von seiner Mutter hatte Dickens offensichtlich den scharfen Blick für komische Eigenheiten von Menschen und die Fähigkeit, sie schauspielerisch nachzuahmen.
Die Geschwister
Von Dickens’ sieben Geschwistern überlebte ihn nur die Schwester LAETITIA (1816–1874). Zwei seiner Geschwister starben bereits als Kleinkinder. Die ältere Schwester FRANCES ELIZABETH, genannt Fanny (1810–1848), zu der er das engste Verhältnis hatte, starb mit 38 Jahren an Tuberkulose. ALFRED (1822–1860), der ein tüchtiger Ingenieur wurde, starb im gleichen Alter. Die Brüder FREDERICK, genannt Fred (1820–1868) und AUGUSTUS (1827–1866) waren lebensuntüchtige Männer, denen Dickens immer wieder finanziell unter die Arme greifen musste.
Die Ehefrau
CATHERINE, gen. Kate (geb. Hogarth; 1815–1879), hielt 21 Jahre an der Seite ihres ruhelosen Mannes durch, obwohl sie selber von eher passivem Temperament war. Zwischen 1836 und 1852 gebar sie ihm zehn Kinder. Hinzu kamen mindestens zwei Fehlgeburten. Dass sie danach ohne eigene Schuld regelrecht verstoßen wurde und nur wenig Kontakt zu ihren Kindern mit Ausnahme des ältesten Sohnes hatte, war ein schweres Schicksal, das zur Frustration einer gescheiterten Ehe hinzukam. Bis zuletzt
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