Charles Dickens
wo sich ihm das Bild einer verschneiten Industriestadt bot. Das kalte Wetter, die seit dem Sommer andauernden Arbeitskämpfe und der unmittelbare Eindruck der verschandelten Natur trugen sicher dazu bei, dass er den nächsten Roman in diesem Milieu spielen ließ. Dessen Keimzelle spürt man bereits in der kurzen Skizze, die Dickens schon drei Wochen später am 21. Januar unter dem Titel
Fire and Snow
in
Household Words
publizierte. Dort beschreibt er die Bahnfahrt durch die verschneite Industrielandschaft zunächst wie den Eintritt in eine Märchenwelt, um dann fortzufahren:
Und weiter gehts über das Hochmoor, wo die metallisch rasselnden Schlangen, die sich gewöhnlich über den Kohleschächten winden, unter dem weißen Schnee die Feiertage verschlafen; doch die schwergewichtigen Ungeheuer, die Hochöfen, dürfen sich keine Erholung gönnen, sie sind wach und röhren wie immer. Jetzt ein rußiges Dorf; dann ein Schlot, danach wieder eine der schlafenden Schlangen, die aussieht, als ob sie in dem Moment betäubt wurde, in dem sie Schutz suchen wollte in dem kleinen Maschinenhaus am Eingang des Schachts. Jetzt ein Teich, auf dem dunkle Flecken Schlitten fahren oder Schlittschuh laufen; dann ein Trupp ähnlicher Flecken, die sich, halb versunken, mit Schneebällen bewerfen; danach ein kalter weißer Altar aus Schnee, auf dem ein Feuer lodert; dahinter ein ödes kahles Gelände von Abraum und Fels, weich überschneit und umgeben von einer mürrischen Stadt aus Schloten. Nicht gerade angenehm der Gedanke, dieses Gelände ohne Führer durchqueren zu müssen und womöglich verschlungen zu werden von einem längst verlassenen und vergessenen Schacht. Auch nicht angenehm der Gedanke, dass in diesem unterminierten Land ein halbes Dutzend Brückenbögen mit einem Eisenbahnzug darauf plötzlich in den Tiefen des Kohlewaldes verschwinden könnte.
Bleakhaus
Die Strukturmerkmale, die sich in den vorangegangenen Romanen bereits mit zunehmender Deutlichkeit abzeichneten, finden in
Bleak House
zum ersten Mal die einheitliche Form, die für Dickens’ spätere Werke charakteristisch ist. In diesem ungewöhnlich umfangreichen Roman kommt zum zentralen Erbschaftsmotiv und der Polarität von Gefängnis- und Wassersymbolen die Grundform des Detektivromans hinzu, wobei jetzt sogar ein echter Detektiv auftritt. Während die früheren Romane entweder mit der Vorstellung der Hauptfigur, mit einem Erzählerprolog oder mit einem Zooming-in auf den Schauplatz beginnen, setzt
Bleakhaus
mit einer symbolischen Ouvertüre ein, in der die zentralen Spannungspole, symbolisiert durch das Kanzleigericht auf der einen und den Nebel auf der anderen Seite, wie zwei musikalische Themen vorgestellt werden.
Den beiden Symbolbereichen sind zwei Erzählstränge zugeordnet, die sich in gewissem Sinne komplementär zueinander verhalten. Ihre Problemträger sind Lady Dedlock und Richard Carstone. Beide Charaktere haben sich mit einer «ererbten» Vergangenheit auseinanderzusetzen. Bei Lady Dedlock ist es die eigene verdrängte Vergangenheit, die ihr in Gestalt ihrer unehelichen Tochter entgegentritt; bei Carstone ist es eine materielle Erbschaft, über die seit dreißig Jahren vor dem Kanzleigericht gestritten wird. Während Lady Dedlock vor ihrer «Erbschaft» zu fliehen versucht, setzt Carstone umgekehrt alles daran, in den Besitz der seinen zu kommen. Beide laufen damit Gefahr, ihre Autonomie zu verlieren. Carstone tappt in dem Nebel herum, der in der Ouvertüre den Kanzleigerichtshof umgibt, und er versucht wie Kafkas Landvermesser im
Schloss
zu den Verantwortlichen für seinen Erbschaftsprozess vorzudringen. Lady Dedlock wiederum lebt in einem kalten gefängnishaften Schloss, während draußen unablässig der Regen auf die Terrasse tropft und wie das Schicksal bei ihr anklopft.
Dickens flicht aus den beiden gegenläufigen Handlungssträngen einen äußerst komplexen und dennoch in sich schlüssigen Plot. Anders als in
Oliver Twist
, wo die Entdeckung des Geheimnisses am Schluss desRomans wie die Auflösung eines erst nachträglich erfundenen Handlungsknotens wirkt, lässt er hier die Fäden sich von Anfang an ineinander verschlingen, wobei immer neue Figuren in das Gewebe einbezogen werden. Dabei ist die Zuordnung der Charaktere zur zentralen Thematik klar zu erkennen. Sir Leicester Dedlock und seine zwanzig Jahre jüngere bildschöne, aber verbitterte und in ihren Gefühlen erkaltete Ehefrau repäsentieren die seelische Erstarrung, so wie ihr
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