Charles Dickens
steinernes Schloss Härte und Kälte ausstrahlt. Richard Carstone leidet dem gegenüber an seiner inneren Haltlosigkeit, die ihn der Versuchung seiner Erbschaftserwartung erliegen lässt. In der Mitte zwischen den Extremen und immun gegen ihre Gefahren stehen Esther Summerson, die uneheliche Tochter der Lady, und John Jarndyce, der vom Erbschaftgericht eingesetzte Vormund Richard Carstones, der sich aus dem Erbschaftstreit Jarndyce gegen Jarndyce gänzlich heraushält und das im Zentrum der Jarndyce-Erbschaft stehende Bleak House, das eigentlich ihm zusteht, nur treuhänderisch verwaltet.
Wie in einer musikalischen Komposition oder einer filmischen Bildsequenz bricht Dickens die beiden gegensätzlichen Symbolbereiche in kleinere Splitter auf und flicht sie in das Romangeschehen ein, so dass der Leser am jeweiligen Hintergrund ablesen kann, was im Innern der Charaktere vorgeht. Der Roman endet damit, dass Richard Carstone, bildlich gesprochen, an den Mauern des Kanzleigerichts zerbricht und stirbt, während die Lady am Grabe ihres früheren Liebhabers in nächtlichem Schneematsch ihr Ende findet. Carstone erlebt zwar noch, dass der Prozess nach dreißig Jahren endlich entschieden wird, doch die Kosten haben die Erbschaft vollständig aufgezehrt. Esther Summerson und John Jarndyce, die nach beiden Seiten ihre innere Freiheit bewahrten und sich für den goldenen Mittelweg entschieden, sollten eigentlich auf Grund eines aus Dankbarkeit gegebenen Eheversprechens ein Paar werden. Doch Jarndyce übertrifft auf eine sehr viktorianische Weise seine musterhafte Güte noch dadurch, dass er Esther, deren Liebe zu dem jungen Doktor Woodcourt er erkannte, an diesen freigibt.
Das bisher Ausgeführte lässt an einen Roman denken, bei dem die Pickwick-Seite der Dickensschen Fantasie gänzlich ausgeblendet ist. Das gilt aber nur für die düstere Grundstimmung. Zwar ist der blaue Himmel, der sich über die Pickwick-Welt spannte, dem LondonerNebel und dem Regen in Lincolnshire gewichen, doch in diese trübe Welt –
bleak
, etymologisch identisch mit ‹bleich›, bedeutet ‹öde, trübe, freudlos› – sind zahlreiche skurrile, groteske und makabre Figuren eingebettet, die den Stempel ihres Schöpfers tragen. Da ist vor allem Krook, dessen Name –
crook
bedeutet ‹Krücke› und ‹Gauner› – wie auch sein Spitzname
Lord Chancellor
bereits anzeigt, wofür er steht. Er wird als ein «kleiner, verwitterter, wie ein Kadaver» aussehender Alkoholiker beschrieben, dessen Trödelladen neben wertlosem Ramsch auch Dokumente aller Art enthält und damit ein Abbild des Kanzleigerichtshofs ist. Als er am Schluss, wie bereits erwähnt, nach übermäßigem Alkoholgenuss durch «spontane innere Verbrennung» buchstäblich explodiert und sich in Form von fettigen Rußflocken im Raum verteilt, ist dies ein drastisches Gleichnis für das, was in Dickens’ Augen dem realen Kanzleigericht bevorsteht.
Eine andere Figur, die sich in die Erinnerung des Lesers einbrennt, ist der Rechtsanwalt Tulkinghorn. Gekleidet in stumpfes Schwarz – die Glanzlosigkeit wird ausdrücklich betont – geistert er wie ein Zombie durch den Roman und verkörpert als wandelnder Aktenschrank die Lebensferne eines erstarrten Rechtssystems, das er zum eigenen Vorteil mit gutem Gewinn vertritt. Auch ihn ereilt, wie Krook, ein gewaltsamer Tod. Er wird von einer Frau, die ihm bei seinen dunklen Geschäften half und von ihm nicht den erwarteten Lohn bekam, ermordet. Zum weiteren Personal gehört der Polizeidetektiv Bucket, der zuerst von Tulkinghorn auf die Spur von Lady Dedlocks Geheimnis angesetzt wurde und danach dessen Ermordung aufklärt.
Neben diesen düsteren Figuren wimmelt der Roman von komischen Typen wie z.B. Mrs. Jellyby, die sich mehr um die Erziehung der Afrikaner in Borrioboola-Gha als um die eigene Familie kümmert. Weitere Zielscheiben von Dickens’ Satire sind der ölige Sektenprediger Mr. Chadband, in dessen Gestalt er die religiöse Heuchelei attackiert, und
The Right Honourable
William Buffy, M. P., der die Inkompetenz der Cuffys, Duffys und Fuffys im Parlament verkörpert. Sir Leicester Dedlock, der lange Zeit als Repräsentant des verkrusteten Systems erscheint, gewinnt zuletzt eine fast tragische Statur, als er seinen verletzten Stolz überwindet, seiner Frau vergibt und sie nur noch retten will.
Für diesen Roman hatte sich Dickens einen so komplexen, figurenreichen Plot ausgedacht, dass er es für nötig hielt, den Stoff durch
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