Charles Dickens
einenerzähltechnischen Kunstgriff zu bändigen, indem er einen Teil des Geschehens von Esther Summerson in der Ich-Form erzählen lässt. Das macht den labyrinthischen Handlungsverlauf zwar übersichtlicher, hat aber den Nachteil, dass die moralischen Einstellungen Esthers gegenüber den anderen Figuren ein übermäßiges Gewicht erhalten. Von Nachteil ist dies besonders deshalb, weil Esther viktorianische Wertnormen in so reiner Form vertritt, dass sie aus heutiger Sicht fast wie deren Karikatur wirkt. Sie ist unermüdlich selbstlos im Einsatz für das Wohl anderer und muss am Schluss, als sie ihr Eheversprechen gegenüber Jarndyce pflichtbewusst einlösen will, von diesem zu ihrem Glück förmlich gezwungen werden. Als Tochter der bildschönen Lady Dedlock glich sie ihrer Mutter anfangs so sehr, dass Fremde die Ähnlichkeit sofort erkannten. Doch dann wird sie durch die Pocken ihrer Schönheit beraubt, was im Roman wie ein moralischer Gewinn dargestellt wird. So ist sie – wie Agnes Wickfield in
David Copperfield
und all die anderen engelhaften Frauen, deren Schlichtheit (
plainness
) über die Schönheit triumphiert – ein stereotyper «Engel im Haus», wie ihn Coventry Patmore in seiner an früherer Stelle erwähnten Reihe von Gedichtbänden unter dem Titel
The Angel in the House
propagierte. Der erste Band dieser Reihe erschien ein Jahr nach der letzten Folge von
Bleak House
.
All dies zeigt, wie nahe Dickens am Zeitgeist war. Während er mit der einen Hälfte seines Herzen aus dem Zentrum der viktorianischen Wertnormen sprach, zog er mit der anderen gegen die Verkrustung des politischen und sozialen Systems zu Felde. Man ist versucht sich auszumalen, inwieweit
Bleak House
ein noch besserer Roman geworden wäre, wenn der eine Teil nicht von Esther, sondern von ihrer unglücklichen Mutter erzählt worden wäre. Doch das wären die Bekenntnisse einer ledigen Mutter geworden, die das Publikum wohl weniger positiv aufgenommen hätte. Auf jeden Fall markiert der Roman einen Punkt in Dickens’ Schaffen, an dem seine naturwüchsige Erzählfreude vollends in kontrollierte Erzählkunst übergeht. Dass er den Roman seinen «Mitstreitern für die Gilde zur Förderung von Literatur und Kunst» widmete, scheint die Entschiedenheit seines Kunstanspruchs noch zu unterstreichen.
Schreiben in Zeiten von
Krieg und Cholera
1854
Am 28. Dezember 1853 schloss Dickens mit seinen Verlegern einen Vertrag über einen Roman «im Umfang von fünf monatlichen Lieferungen von
Bleak House
», der in wöchentlichen Fortsetzungen in
Household Words
erscheinen und den Absatz der Zeitschrift wieder auf die frühere Höhe bringen sollte. Als Honorar wurden ihm zusätzlich zu seinen bisherigen Einkünften aus der Zeitschrift 1000 Pfund zugesagt. Eine reizvolle Aufgabe war es nicht, da wöchentliche Fortsetzungen ein zeitlich enges Korsett darstellten. Doch es gab zu der Zeitschrift keine Alternative.
Ehe sich Dickens an die Arbeit machte, half er aber erst einmal seinen Kindern bei der Vorbereitung einer Theateraufführung am Dreikönigstag. Ursprünglich hatten die Kinder an eine Scharade gedacht, doch Dickens fand so etwas langweilig und brachte sie dazu, Henry Fieldings Farce
Tom Thumb
(
Däumling
) einzustudieren. Die Titelrolle bekam passenderweise der vierjährige Sohn Henry Fielding, der sie mit Bravour gespielt haben soll. Auch für die übrigen Familienmitglieder und für den Freund Mark Lemon mit seinen Kindern gab es Rollen. Dickens selber spielte einen Geist, was ihm Gelegenheit bot, sein komödiantisches Talent zu entfalten. Thackeray, der sich unter den Gästen befand, fiel dabei vor Lachen vom Stuhl.
Nach diesem Zwischenspiel machte sich Dickens an den neuen Roman, für den er erst einmal einen Titel brauchte. Am 20. Januar schickte er Forster eine Liste mit vierzehn Vorschlägen, darunter
Hard Times
, den beide für zugkräftig hielten und der für ihn selber das Potential einer Initialzündung hatte. Für einen Charakter mit Namen Gradgrind hatte er sich schon vorher entschieden: mit dessen Vorstellungsollte der Roman beginnen. Am 23. Januar teilte er Miss Burdett-Coutts mit, dass er die erste Seite geschrieben habe. Gradgrind war von Anfang an als Repräsentant eines verfehlten Erziehungssystems gedacht, gegen das Dickens schweres Geschütz auffuhr. Schon der Name deutet die Zielrichtung an.
Grind
bedeutet ‹schleifen› und ‹mahlen›,
grad
verweist auf
grading,
d.h. auf ‹messen›, ‹zensieren›. Gradgrind
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