Charles
sah.
Dann setzte sich das Flugzeug in Bewegung und rollte auf die Startbahn zu.
Lanni drehte sich um und beobachtete, wie Charles einige Schritte ging und schließlich stehen blieb. Wenige Minuten später war er bereits außer Sichtweite.
8. KAPITEL
„H allo, Grammy, ich bin’s, Lanni.“ Catherine Fletcher schaute ihre Enkelin an, als würde sie sie nicht wiedererkennen.
Catherine war Anfang Siebzig, sah aber älter aus, denn sie hatte tiefe Falten und einen verbitterten Zug um den Mund. „Ich weiß, wer du bist“, sagte sie. „Wo ist Kate?“
„Mom kommt gleich.“
„Deine Mutter hat mich die ganze Woche nicht besucht. Wenn meine Tochter mich schon abschiebt, damit ich sterbe, soll sie wenigstens herkommen.“
Lanni wusste, dass ihre Mutter Catherine fast jeden Tag im Pflegeheim besucht hatte. Obwohl die täglichen Besuche eine Belastung für sie waren, tat Kate alles, um ihrer Mutter den Aufenthalt dort so angenehm wie möglich zu machen.
„Steh nicht rum!“ schimpfte Catherine. „Bring mir meinen Bademantel. Ich will aus diesem verdammten Bett raus.“
Ihre schroffe Art konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Catherine sehr zerbrechlich war. Lanni war bei ihrem Anblick richtig erschrocken, weil sie noch dünner schien als je zuvor.
„Mutter, du weißt doch, dass du ohne die Hilfe einer Schwester nicht aufstehen kannst.“ Kate, die auf der Türschwelle erschienen war, klang besorgt und frustriert zugleich. „Und es besteht kein Grund, Lanni so anzuschreien.“
Lanni war erleichtert. Ihre Mutter war genau im richtigen Moment gekommen.
Verlegen wandte Catherine den Blick ab.
„Wir wollen dir heute Nachmittag die Haare waschen“, fuhr Kate eine Spur sanfter fort. „Es ist wieder mal fällig.“
Catherine verzog missbilligend den Mund. Sie trug einen Knoten, aus dem sich zahlreiche Strähnen gelöst hatten.
„Ich wünschte, du könntest dich dazu durchringen, dein Haar abschneiden zu lassen“, fügte Kate hinzu.
„Nein“, entgegnete Catherine scharf. „An mein Haar lasse ich niemanden ran.“
„Wie du willst, Mutter.“
Lanni konnte über die Engelsgeduld ihrer Mutter nur staunen.
Eine Stunde später verließ sie mit Kate das Pflegeheim. „Wie schaffst du das bloß?“ fragte sie verblüfft.
„Sie ist meine Mutter“, erklärte Kate schlicht. „Sie war zwar nicht gerade die beste Mutter der Welt, aber ich hätte es auch schlechter treffen können. Es ist nicht einfach für sie, sich an das Leben im Heim zu gewöhnen. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie bisher immer für sich selbst gesorgt hat.“
„Aber sie ist so …“
„Undankbar?“ ergänzte Kate.
„Ja.“
„Mutter kann nicht aus ihrer Haut. Ich glaube, sie hat kein besonders glückliches Leben geführt. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends, und ich möchte keine Reue empfinden, wenn wir sie beerdigen müssen.“
Lanni verstand, was ihre Mutter damit meinte, denn auch sie fragte sich ständig, was hätte gewesen sein können. Es verging keine Minute, in der sie nicht an Charles dachte. Seitdem sie nach Anchorage zurückgekehrt war, fühlte sie sich unsagbar elend.
Kate hakte sich bei Lanni unter. „Hast du Lust, irgendwo zu Mittag zu essen?“
Lanni nickte und lächelte schwach.
„Gut.“
Kate nahm Lanni mit in ihr Lieblingsfischrestaurant, was sie normalerweise nur bei besonderen Anlässen wie zum Beispiel Lannis Geburtstag tat.
Im Restaurant führte man sie zu einer gemütlichen Nische am Fenster, von dem man den Turnagain Arm überblicken konnte, eine fjordähnliche Bucht, die mit dem Cook Inlet verbunden war. Soweit Lanni noch aus dem Geschichtsunterricht wusste, hatte James Cook den Turnagain Arm 1778 entdeckt, und zwar während seiner dritten und letzten Reise auf der Suche nach der Nordwestpassage. Der ungewöhnliche Name rührte daher, dass Cook und seine Mannschaft wieder hatten umkehren müssen.
„Willst du etwas mit mir feiern?“ fragte Lanni, während sie die Leinenserviette auf ihrem Schoß ausbreitete.
„Dass du wieder zu Hause bist.“
„Ich bin schon seit fast einem Monat wieder da.“ Genauer gesagt waren es siebenundzwanzig Tage, von denen ihr jede Minute wie ein Jahr vorgekommen war. Es überraschte Lanni, dass sie Charles kaum kannte und ihn trotzdem so sehr liebte. Jeder Tag ohne ihn war eine Qual. Sie hatte keinen Appetit mehr und schlief schlecht.
„Irgendetwas ist doch passiert, als du in Hard Luck warst“, bemerkte ihre Mutter leise, während
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