Charlie + Leo
Seite, drittes Fach von obe n – ich könnte sofort hier anfangen.
Ich nehme zwei A4-Blöcke teures Nonbleeding-Papier für zu Hause und einen A3-Block normales Papier für die Schule. Bei dem Nonbleeding-Papier verläuft die Tusche nicht, das ist extrem wichtig, wenn man professionell zeichnet. Nur blöd, dass es so teuer ist. Noch ein Vorteil, wenn ich hier arbeiten würde: Die Angestellten kriegen bestimmt Prozente. Ich würde also nicht nur Geld verdienen, sondern auch noch welches sparen, der perfekte Job. So, jetzt die Stifte. Direkt neben der Kasse, geordnet nach Firmen, Art und Stärke. Was brauche ich alles? Bleistifte auf jeden Fall, Stärke HB, davon nehme ich gleich fünf, die sind auch nicht so teuer. Oh, was ist das denn? Ein Set mit Graustufenstiften im Angebot für 12,9 0 (? Ich habe zwar noch zwei oder drei, aber das ist schon verlockend. Reicht mein Geld dafür? Wenn ich einen sehr billigen Toaster kaufe, ja. Was ist wichtiger: Stifte oder Toaster? Die Frage ist schnell beantwortet, vor allem, weil der Toaster wahrscheinlich sowieso nicht lang leben wird. Ich greife mir eines der Päckchen und stelle mich in die kurze Schlange von drei Leuten. Fünf Minuten später stehe ich immer noch an exakt derselben Stelle. Die Schnellste beim Abkassieren ist Jellosubmarine nicht gerade. Da wäre ich schneller, jede Wette.
Hey, vielleicht sollte ich wirklich mal fragen, ob ich hier arbeiten kann. In den Ferien zum Beispiel. Oder müssen wir nicht sogar in diesem Jahr ein Schulpraktikum machen? Oder war das ers t … Huch! Jemand hat mir gerade von hinten auf die Schulter getippt.
»Hi!«, höre ich eine weibliche Stimme.
Ich drehe mich um. Oh, fuck! Genau so muss sich ein Herzinfarkt anfühlen. Atemnot, Herzrasen und Stillstand im Wechsel, Schweißausbrüche, die Hamster ertränken könnten. Das ist Leo! Sie steht direkt vor mir! Also eigentlich hinter mir, aber ich habe mich ja umgedreht, also steht sie einen knappen Schritt von mir entfernt direkt vor mir!
»Auch hier?«, fragt sie.
Ja. Aber nicht mehr lang. Gleich falle ich nämlich tot um.
»Du bist doch in meiner Klasse, oder?«, fragt sie mit leicht zweifelnder Miene.
Ja, bin ich. Und nicht nur das. Ich bin außerdem unsterblich in dich verliebt. Und zwar jetzt noch unsterblicher als noch vor einer Minute.
Ihr so nah zu sein ist einfach unbeschreiblich. Diese Augen! Wenn ich da auch nur eine Millisekunde länger hineinschaue, bin ich weg, für immer und ewig in ihnen versunken. Und ihre Lippen. Sie sehen so weich aus, so unwiderstehlich küssbar weic h … Du musst etwas sagen, Charlie Brown. Ja, ich weiß, verdammt! Kann ich aber nicht. Ein imaginärer Kuss hat mir die Stimme geraubt.
Ich nicke kurz, mehr geht einfach nicht.
»Charlie, oder?«, sagt sie.
Sie kennt meinen Namen! Das heißt, ich bin ihr schon mal aufgefallen! Ein kleiner Schritt für die Menschhei t – ein Riesenschritt für einen Charlie Brown! Bleibt nur noch die Frage, ob ich ihr positiv oder negativ aufgefallen bin.
Und wieder bringe ich nicht mehr als ein Nicken zustande.
»Kaufst wohl auch für Kunst ein?«, fragt sie und zeigt auf die Blöcke und Stifte, die ich vor meinem Bauch halte.
Jetzt sag endlich was, Charlie Brown!
»Ä h … ja«, presse ich zwischen den Lippen hervor.
Na also, geht doch!
»Ganz schön viel Zeug«, stellt sie fest. »Bist wohl ziemlich gut in Kunst, was?«
Oha. Böse Falle. Ist das Absicht? Will sie etwa unauffällig herauskriegen, ob ich ihr anonymer Zeichner bin? Aber das würde ja bedeuten, sie zieht es in Betracht, dass ich es tatsächlich sein könnte! Oder will sie es nur ausschließen? So nach dem Motto: Hoffentlich, hoffentlich ist es nicht dieser langweilige, stinknormale, alles andere als gut aussehende Typ! Ja, so ist es wahrscheinlich. Sie will nicht wissen, ob ich es bi n – sie will sich bloß vergewissern, dass ich es nicht bin. Seufz. Aber okay, soll sie haben. Um mich zu outen, ist es sowieso noch zu früh. Mal ganz davon abgesehen, dass ich das jetzt und hier von Angesicht zu Angesicht niemals hinkriegen würde.
»Ä h … nein«, sage ich. »Ic h … ich bin überhaupt nicht gut in Kunst. Deswegen brauche ich ja so viel Zeug. Der hohe Verschleiß, verstehst du? Brauche immer hundert Versuche. Ich kann noch nicht mal mit dem Lineal einen geraden Strich ziehen. Echt jetzt. Kein Witz.«
Das sollte wohl reichen. Mist. Jetzt wird sie mich mit Sicherheit nicht mehr als anonymen Zeichner in Betracht ziehen. Und dann
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