Charlie und der Diamantenraeuber
Fenster.
Ein Presslufthammer – oder zwei oder drei – lässt den Boden unter meinen Füßen zittern. Weiter weg schreit ein Mann etwas. Es klingt böse, seine Stimme überschlägt sich – trotzdem ist es toll! Toll, hier zu sein! Mitten in Manhattan.
Wir gehen weiter, bleiben immer wieder nach ein paar Metern stehen, gucken und staunen. »Ich habe noch nie so viele unterschiedlicheMenschen auf einem Haufen gesehen«, sage ich ergriffen. Hanna lacht: »Das hast du gestern schon gesagt.«
»Du hast recht, aber es haut mich eben immer noch um.« Ich hatte mal ein Kinderbuch, das hieß
Die verschiedenen Völker der Welt
. An dieses Buch muss ich jetzt hier auf dem Broadway denken. Es ist nämlich ein bisschen so, als hätte man all die Menschen aus meinem Buch lebendig gezaubert und hier ausgesetzt, mitten im
Big Apple
, wie man New York auch nennt.
Berlin ist auch nicht gerade klein, aber gegen New York ist es bloß ein Witz, eine große Kleinstadt, so kommt es mir in diesem Augenblick vor. Ich gehe weiter und kann gar nicht genug sehen.
Hier leben eine Menge Menschen mit allen Hautfarben: Schwarze, Chinesen, blasse und braun gebrannte Hellhäutige – und allen Haarfarben, von weißblond bis schwarzrot gestreift, die bravsten Frisuren vom Mittelscheitel bis zu den wildesten, verfilztesten Rastalocken oder Dreadlocks. Als eine zarte Asiatin an uns vorbeigeht, muss ich gleich wieder an Lin denken. Eine gruselige Vorstellung, dass sie jetzt – unschuldig – im Gefängnis sitzt. Ob sie sie gerade verhören oder bereits in eine Zelle geführt haben? Die Arme.Hoffentlich haben sie ihr inzwischen wenigstens die Handschellen abgenommen.
Für einen Augenblick stelle ich mir Lin vor, wie sie alleine und traurig in einer tristen, grauen Zelle steht. Sie hat ein dünnes, blauweiß gestreiftes Sträflingshemd und dazu passende Hosen an. An ihrem Fuß befindet sich eine schwere Eisenkugel, die mit einer Kette um ihr schmales Fußgelenk gebunden ist. Sie schaut zum Fenster hoch, in dem nur der Himmel zu sehen ist.
Ein asiatischer Junge drängelt sich an mir vorbei. Er hat es anscheinend noch eiliger als alle anderen. Aus Versehen rempelt er mich an. Empört sehe ich hinter ihm her. Von hinten unterscheidet er sich kaum von dem jungen Mädchen neben ihm. Dabei kommt mir plötzlich eine Idee. »Hanna! Warte doch mal!«, sage ich aufgeregt. »Es könnte doch sein, dass jemand, der Lin sehr ähnlich sieht, auch so zierlich ist und eine ähnliche Frisur hat, Ruth angefahren haben könnte. Die Person muss Lin ähnlich sehen, denn Johnny und Romy glauben schließlich beide, dass sie es war.«
Hanna sieht mich an. Wir haben jetzt unser Tempo verringert. »Ja, kann sein, dass es so war«, sagt sie nachdenklich. »Jetzt müssen wir bloß noch herausfinden, warum das jemand hätte tunsollen. Es würde auf jeden Fall erklären, warum die Täterbeschreibung genau auf Lin passt, auch wenn sie es gar nicht war.«
Was wäre eigentlich, wenn Lin doch die Täterin wäre? Vielleicht hat ihr Bruder sie so unter Druck gesetzt, dass sie bereit war, es für ihn zu tun? Aber nein, das ist Quatsch. Sie hätte die arme Ruth bestimmt nicht über den Haufen fahren können. Ruth ist doch fast wie eine Mutter für sie.
Ulli und Timmi bleiben stehen. »Mädels!«, ruft Ulli. »Jetzt vergesst doch bitte mal für einen Augenblick das Ganze – und genießt es einfach, hier auf dem Broadway zu sein, okay? Eine weltberühmte Straße! Ich will mit euch bis hoch zum
Washington Square
gehen. Dort kann man herrlich in der Sonne sitzen und den Tag genießen.«
Gut, vergessen wir kurz das Ganze – auch wenn es schwerfällt.
Ich halte die Augen offen, während wir weiter über den
Broadway
spazieren.
Elegante Damen in edlen Kostümen stöckeln auf
high heels
neben Herren in Anzügen, gefolgt von schmuddelig wirkenden Figuren, deren Zehen aus kaputten Schuhen schauen wie neugierige Augen. Die meisten Menschen hasten an uns vorbei, aber immer darauf bedacht, niemandenanzurempeln. Viele trinken im Gehen Kaffee aus Pappbechern und telefonieren dabei, das heißt, sie sprechen in ihre
headsets
. Von Weitem sieht es aus, als würden sie Selbstgespräche führen. Diese
headsets
haben winzig kleine Kopfhörer. Habe ich bei uns zwar auch schon gesehen, aber nicht so oft wie hier.
Wir spazieren weiter und weiter, sammeln immer mehr Eindrücke. Kinder in teuren Klamotten, die in eleganten Häusern verschwinden. Obdachlose, die in Lumpen
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