Charlotte Und Die Geister Von Darkling
oder Kraft brauchte, konnte ich manchmal Spuren von ihr in meinen eigenen Zügen finden. Ich war größer als sie, hatte aber dieselbe kurze, spitze Nase, die gleichen immer leicht geöffneten Lippen, als wollte ich etwas sagen (was auch oft der Fall war), und die haselnussbraunen Augen meines Vaters. Ich zog den Mantel über mein weißes Baumwollnachthemd, das Jonathan so gern gemocht hatte, und verließ mein Zimmer.
Everton war ein großes Landhaus. Einst sehr schön und elegant, befand es sich schon viele Jahre vor meiner Ankunft hier vor neun Monaten in einem immerhin noch angenehm wohnlichen Stadium des Verfalls. Die burgunderroten Teppiche im Flur waren abgetreten und ausgefranst an den Rändern. Die Gaslichter, die zu Kerzenflammen heruntergedreht waren und gerade genug Licht gaben, um tiefe schwarze Schatten an dieWände zu werfen, wiesen Sprünge auf. Das Blumenmuster der Tapeten hatte Risse an Blüten und Stängeln und löste sich da und dort von den Wänden. Das lag jedoch nicht an mangelndem Bemühen. Mrs. Norman, die Haushälterin, schien täglich neues Personal einzustellen, um dem Haus wieder zu seinem alten Glanz zu verhelfen, aber all ihr Streben war vergeblich. Der Verfall schien sich nicht aufhalten zu lassen. Letzte Woche behauptete die Köchin, in der Küche Mäuse gesehen zu haben. Die anderen Bediensteten hatten hinter vorgehaltener Hand davon geredet, dass mit dem Tod der Herrin im letzten Jahr auch der Geist des Hauses dahingegangen war; wenn man denn an derlei Dinge glauben wollte.
Mich für meinen Teil störten diese Mängel nicht. Sie verliehen dem Haus eine gewachsene Wärme und Vertrautheit, wie sie mit dem Altern einhergeht, wie Fältchen um den Mund, die vom vielen Lachen herrühren, oder fadenscheinige Stellen an der Lieblingsdecke, die durch die häufige Benutzung gelitten hat. Das Haus war weitaus freundlicher als die kalten, abweisenden Herrenhäuser in den größeren Städten. Wie ein alternder Mensch war auch Everton vom Leben gezeichnet. Das Haus besaß Charakter, und ich hing diesem Gedanken nach, während ich durch den dunklen Gang zum Kinderzimmer tappte.
Vom Zimmer der Kinder führte eine Tür direkt zu dem des Kinderfräuleins, aber als ihre Gouvernante fühlte ich mich für ihr Wohlbefinden verantwortlich. Nanny Prum pflegte zu trinken, nachdem sie die Kinder zu Bett gebracht hatte. Als Betrunkene war sie unzurechnungsfähig, stolperte über Teppiche und sprach in einer hohen, schrillen Stimme, die nichts mit ihrem sonst tiefen Bariton gemein hatte, mit den Insassen des Vogelkäfigs, als wären sie geladene Gäste. Ihre Neigung sorgte zudem dafür, dass sie sehr fest schlief. Ein einzelner Schrei in der Nacht würde sie kaum wecken, mochte aber dem jüngeren der beidenBuben Alpträume bescheren. Dann müsste ich ihn den Rest der Nacht in den Armen wiegen, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Die Tür ging auf, bevor ich sie erreichte. Ein kleiner Blondschopf tauchte aus der Dunkelheit auf und blickte mir mit weit offenen grünen Augen entgegen.
»Charlotte?«
»Geh wieder schlafen, James.« Ich nahm ihn sanft an der Hand und führte ihn ins Zimmer zurück, ungeachtet seiner unwillig vorgeschobenen Unterlippe.
»Aber ich hörte etwas, und Nanny ist nicht in ihrem Zimmer, und ich fürchte mich«, sagte er in einem Atemzug. Ich setzte ihn auf sein Bett und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Sein älterer Bruder Paul knurrte protestierend unter einem Berg von Decken auf der anderen Seite des Zimmers. Er war offenbar ebenso entschlossen, sich nicht von den nächtlichen Ereignissen stören zu lassen, wie sein fünfjähriger Bruder erpicht darauf war, seine Neugier zu befriedigen. James hatte Nanny Prums Tür halb offen gelassen.
»Bist du sicher, dass sie nicht da ist?«, fragte ich ihn leise, fast flüsternd. Der kleine Junge nickte langsam und mit großen Augen und voller Eifer, den Erwachsenen bei aufregenden Ereignissen zur Hand zu gehen, von denen schlafende Kinder gewöhnlich nichts mitbekommen. Ich hob ihn hoch, dass er auf meiner Hüfte sitzen konnte, und betrat das Zimmer des Kinderfräuleins.
Das Bett war verlassen, und ich begann, mir Sorgen zu machen. Nanny Prum würde die Kinder niemals unbeaufsichtigt lassen, und sie war auch nicht jemand, der nachts im Anwesen herumwanderte, auch nicht in betrunkenem Zustand. Sie war eine Frau von beträchtlicher körperlicher Präsenz, und es gab kaum jemanden im Dorf, dem ihre imposante Leibesfülle nicht Respekt
Weitere Kostenlose Bücher