Charlotte Und Die Geister Von Darkling
ERSTES KAPITEL
Die Zerstückelung der Nanny Prum
Jede Nacht träumte ich von den Toten. Träume erlauben uns, jenen wieder zu begegnen, die man verloren hat. Sie drängen aus dem sterbenden Tag empor und gleiten auf Splittern der Erinnerung durch den dunklen Schleier des Schlafes. Sie erwecken für diesen, scheinbar ein ganzes Leben lang währenden Augenblick die Illusion, die Dahingegangenen seien noch lebendig und wohlauf und wären am Ende des Traumes wirklich da. Natürlich waren sie das nie, aber ich wünschte mir so sehr, meine Erinnerungen könnten der Alptraum sein, den ich fälschlich für die Wirklichkeit hielt. Mit jedem Erwachen wurde mir jedoch erneut voller Pein bewusst, dass die Toten tot blieben und ich wieder allein war.
In dieser Nacht wich die entspannende dunkle Leere einem schwach erhellten Ballsaal, der weder durch Wände noch eine Decke begrenzt schien. Es war ein vergessener Ort tief im Abgrund der Zeit. Kristallene Lüster hingen ohne Befestigung über dem Marmorboden und drohten, auf die Gäste herabzustürzen, die in vermodernden Kleidern wandelten, welche schon seit Jahrzehnten aus der Mode waren. Der Tanz begann mit einem langsamen, melodischen Walzer, der mich weiter forttrug in die Gefilde zwischen Schlaf und Wachsein. Ich wiegte mich im Rhythmus, bis mich jemand von hinten in seine Arme zog. Ich sah sein Gesicht nicht, doch ich wusste, wer es war. Mein verstorbener Ehemann Jonathan tanzte mit mir durch den Ballsaal, ohne je eine Wand zu erreichen, ohne je mit jemandem zusammenzustoßen, schneller und schneller, bis er sich tief über mich beugte. Meine Mutter und mein Vater tanzten neben uns, voller Leben, jünger als in meinen Erinnerungen. Dies war der Tanz der Toten.
Die Musik verstummte. Mein Mann verbeugte sich, bevor er in die Dunkelheit jenseits des Ballsaales zurückwich. Der Raum begann, sich mit Leuten zu füllen, die ich nicht kannte. Sie starrten mich an, doch ihre Gesichter waren nur Masken, die jeden Moment fallen würden. Meine Eltern verschwanden in der Menge. Ich versuchte sie zu finden, doch das Gedränge war zu dicht, und die Musik setzte wieder ein. Dieses Mal war sie unheimlich, grausam, eine zerbrochene Spieldose voller Kummer. Ein ganz in Schwarz gekleideter Mann erschien vor mir. Schatten verbargen seine Züge. Als er meine Hand nahm, wusste ich mit einer Bestimmtheit, wie sie nur Träume vermitteln können, dass er kein Fremder war, dass wir uns schon begegnet waren. Er hielt mich mit kalten Händen, und seine Lippen lächelten, auch wenn sie mir verborgen blieben. Die anderen Tänzer drehten sich um uns, bis sie verschwammen. Er zog mich dicht an seinen Körper in die nur ihn umgebende Dunkelheit, bis ich darin versank. Die Lüster verloren sich in der Ferne, als ich schreiend ins Leere fiel.
Ich erwachte mit der Erkenntnis, dass die Schreie nicht aus meinem Mund kamen. Eine Frau schrie in der Nacht. Zuerst war ich zutiefst entrüstet, denn wenn jemand schon die Gesellschaft eines anderen genießen durfte, sollte er wenigstens so viel Anstand besitzen, dem nächtlichen Vergnügen weniger öffentlich nachzukommen. Aber dann irritierten mich die Länge des Schreis und der Klang. Was immer dort vor sich ging, schien alles andere als angenehm zu sein. Wenn hier Vergnügen geplant war, hatten die beiden Beteiligten völlig versagt. Eine Urangst und Endgültigkeit schwangen in dem Schrei, und als er endete,folgte nichts mehr. Der Laut war von draußen durch mein Fenster hereingedrungen, und einen flüchtigen Moment lang wollte ich meinen Vater rufen, doch dann erinnerte ich mich daran, dass er tot war. Es tat so weh, ihn wieder zu verlieren. Aber das Gefühl schwand rasch, denn es war mir vertraut. Ich verspürte es am Ende eines jeden Traumes.
Ich schüttelte den Kopf und vermied es, diesen Gedanken nachzuhängen. Eine Frau war in Not, und es gab nicht viele hier auf dem Gut, die ich nicht zu meinen Freunden zählte. Ich schlüpfte aus den Decken und eilte zum Kleiderschrank, um meinen warmen Morgenmantel herauszuholen. Der Winter stand vor der Tür. Das Haus wurde jeden Abend kälter. Ich ließ mein Haar über eine Schulter fallen, wie es meine Mutter immer getan hatte, und dachte, wie sehr es dem ihren glich, so weich und mit bleichem goldenem Schimmer im Mondschein, wenn auch bar des vertrauten Dufts von Flieder und Jasmin. Ich betrachtete mich kurz im Spiegel. Alle Fotos meiner Mutter waren vor Jahren einem Feuer zum Opfer gefallen, doch wenn ich Trost
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