Charlotte
sie ist für jemanden eingesprungen.« Der Mann geriet ein wenig in Verlegenheit. »Dieses Gartencenter gehört einem Niederländer, der eine Deutsche geheiratet hat.« Er nickte Nel zu. »Sie hat auch vor kurzem ein Baby bekommen.«
Unter den Bäumen war es angenehm kühl nach dem offenen Stück zwischen Haus und Waldrand, wo die Mittagssonne gebrannt hatte. Der Nebenweg war schmal, er wurde höchstens von Traktoren oder dem alten Jeep befahren. In der Ferne hörte man, wie Nägel eingeschlagen wurden, und hundert Meter weiter entdeckten wir einen alten Hochsitz aus Tannenstämmen mit einem Schilfdach am Rande eines Schussfelds, das mit Heide, hohem Gras und niedrigen Sträuchern bewachsen war. Ein großer, magerer Mann stand mitten auf der Hochsitzleiter aus Baumstämmen, holte Nägel aus einem ledernen Werkzeuggürtel, steckte sich ein paar zwischen die Lippen und nagelte neue Sprossen aus dünneren Eichenästen fest. Er bemerkte uns erst, als Nel seinen Namen rief. »Ivo?«
Der Mann brüllte: »Verdammt nochmal!«, als er sich vor Schreck auf den Daumen schlug.
»Sprechen Sie Niederländisch?«
»Nein.« Sein Gesicht ein böses, dunkles Oval.
»Wir suchen Ihre Schwester, Leonoor«, rief Nel in ihrem besten Deutsch.
»Leo ist nicht hier.« Er schüttelte den Kopf, verriet sich jedoch durch einen flüchtigen Blick zum Wald hinüber.
Ich entfernte mich ein paar Schritte vom Hochsitz. Ich sah niemanden, bis Leonoor zwanzig Meter weiter hinter einer dicken Buche hervorkam. Sie sah finster aus, in dunklen Jeans und einem schwarzen Baumwollhemd, darüber eine moosgrüne Jägerjacke mit zahlreichen aufgenähten Taschen und Reihen dicker Schrotpatronen für die Jagdflinte über ihrem Arm. Der Doppellauf zeigte locker in unsere Richtung. »Was haben Sie hier zu suchen?«
»Auch einen guten Tag«, sagte Nel mit einer friedliebenden Geste. »Könnten Sie das Gewehr vielleicht in eine andere Richtung halten?«
Leonoor ignorierte Nel und das Gewehr blieb auf mich gerichtet. »Woher wissen Sie, dass ich hier bin?«
»Von Ihrem Rechtsanwalt«, antwortete ich. »Es ist ziemlich …«
»Der weiß nicht, wo ich mich aufhalte.«
»Ihr Geburtsort steht in den Sorgerechtspapieren. Ich bin einfach auf gut Glück davon ausgegangen, Sie hier zu finden. Ich habe ein Schreiben von dem Rechtsanwalt der Runings für Sie.«
Sie schaute von Nel zu mir. »Arbeitet sie für den Anwalt?«
»Nein, das ist meine Partnerin, Nel van Doorn. Leonoor Brasma.« Ich zeigte von einer auf die andere, als stellte ich auf einem geselligen Hochzeitsempfang Gäste einander vor, doch Leonoor behielt die Hand am Gewehr und Nel ihre bei sich.
Ich sah aus dem Augenwinkel, wie Leonoors Bruder vom Hochsitz kletterte und auf uns zukam. Seine Bewegungen wirkten sonderbar ungelenk, als könnten sich seine Arme und Beine nicht mit dem Gehirn auf eine Richtung einigen. Leonoor winkte ihn mit der freien Hand zurück. »Schon gut, Ivo. Danke.«
Ivo ging nicht zurück, sondern blieb stehen. Sein Blick huschte hin und her, bis er ihn schließlich auf Nel richtete.
»Das Wetter war so schön, dass wir einen Ausflug damit verbunden haben, mit einer Übernachtung in einem gemütlichen Hotel in Selm«, sagte ich.
Misstrauisch erwiderte Leonoor meinen Blick. »Sie sind freundlicher als beim letzten Mal.«
»Ich tue nur meine Arbeit, Mevrouw. Und ich bin damit fertig. Mevrouw Runing hat mich gebeten, Sie ausfindig zu machen, als letzten Dienst sozusagen. Ich habe ihr berichtet, dass alles, was Sie mir erzählt haben, so in etwa stimmt.«
»Was meinen Sie mit ›so in etwa‹?«
»Das ist eben seine Art, sich auszudrücken«, erklärte Nel freundlich. »Ist das Gewehr geladen?«
»Und was will Ihr Rechtsanwalt?«, fragte Leonoor.
Ich lächelte. »Das ist nicht mein Rechtsanwalt. Die Familie will die Angelegenheit so schnell wie möglich regeln, ich glaube, sie wollen lange Prozesse und öffentliches Aufsehen vermeiden und ziehen eine gütliche Einigung vor. Mevrouw Runing hat mich gebeten, Sie zu einem Gespräch mit dem Anwalt einzuladen, und sie möchte auch mit Charlotte reden.« Ich zog den Umschlag aus meiner Tasche. »Das ist ein Schreiben von ihrem Anwalt. Mevrouw Runing hofft, dass wir ihr bei unserer Rückkehr Ihre Antwort ausrichten können, dann kann sie sich rechtzeitig freimachen, sie muss Patienten deswegen absagen.« Ich bekam Zahnschmerzen von meinem freundlichen Geplauder.
»Ist sie Ärztin oder was?«
»Sie ist Psychologin.«
Die
Weitere Kostenlose Bücher