Charlotte
Meinung nach hat sie aber gesagt …«, setzte ich an.
»Mit mir und Hanna zusammen gehst du für einen harmlosen Postboten mit einem Brief aus den Niederlanden durch. Wenn nicht, riecht es nach Entführung und es kommt zum High Noon mit der Jägerfamilie. Oder zu monatelangem Hin und Her mit der deutschen Justiz über die Auslieferung. Ich reserviere Zimmer in einem gemütlichen Hotel, morgen besuchen wir sie und danach fahren wir in Ruhe wieder zurück. Es wird Zeit, dass Hanna etwas von der Welt sieht.«
»Ich will Hanna nicht mit zu diesen Jägern nehmen.«
»Sie bleibt bei Sorry im Hotel.«
Manchmal kann man mit Nel einfach nicht diskutieren und außerdem hatte sie Recht. Sorry war prompt ganz außer sich über die Aussicht auf eine Auslandsreise und fragte sich nervös, was sie an Garderobe mitnehmen solle.
Ihre Mutter war weniger begeistert. »Nach Deutschland? Kommt gar nicht infrage. Cor hat nicht mal einen Pass.«
»Sie braucht keinen Pass, Mevrouw«, erwiderte ich. »Es ist nicht weit hinter der Grenze und Grenzen gibt es inzwischen gar nicht mehr.« Das Paradox entging ihr.
»Wir bleiben nur für eine Nacht weg«, fügte Nel hinzu.
»Ich brauche sie dringend, wegen Hanna, sonst müsste ich auch zu Hause bleiben. Ich gebe Ihnen die Telefonnummer von unserem Hotel in Selm. Ich habe schon Zimmer für uns reserviert.«
Der Plural beruhigte sie kaum. Sie schaute Nel stirnrunzelnd an, als missbillige sie es, wenn Mütter nicht selbst für ihre Kinder sorgten. »Ich spreche kein Deutsch«, sagte sie stur. »Und meine Tochter auch nicht. Sie ist noch nie im Ausland gewesen. Wir warten besser, bis mein Mann nach Hause kommt, der soll das entscheiden.«
Corrie brach fast in Tränen aus. »Das geht nicht, Ma. Sie müssen jetzt gleich fahren. Du brauchst doch gar kein Deutsch zu sprechen, du musst nur meinen Namen sagen, es gibt dort doch Telefone auf den Zimmern?« Sie warf einen flehentlichen Blick zu Nel hinüber.
Nel beruhigte sie. Telefone, Fernseher, Internet, Gärten mit Gitterzäunen drumherum, deutsche Hotels hätten alles und seien so sicher wie die Bank von England. Eine halbe Stunde später kam Corrie mit einer schweren Reisetasche den Deich entlang, zusammen mit ihrer Mutter, die sich offenbar davon überzeugen wollte, dass keine Händler in weißen Sklavinnen im Auto versteckt saßen.
Wir nahmen die Autobahn über Nimwegen und Goch und durch das Ruhrgebiet. Unser Kindermädchen guckte sich die Augen aus dem Kopf. Sie saß in ihrem schönsten Reisekleid auf dem Rücksitz neben Hannas Babyschale. Das Auto war erfüllt von ihrem Fliederparfüm.
Selm war ein freundlicher Ort zwischen einer Stadt und einem Dorf. Das Hotel, aus kühlem deutschen Backstein erbaut, machte einen soliden Eindruck. Es verfügte über einen hübschen grünen Innenhof, und die idyllischen Straßen in der Umgebung wirkten sicher genug, sodass Corrie und Hanna dort spazieren gehen konnten. Wir aßen zu viert im Restaurant des Hotels, Hanna in einem Kinderstühlchen neben Corrie. Dadurch war die Konversation ein wenig eingeschränkt, aber wir wirkten wie eine richtige Familie.
Die Wirtin zeigte uns beim Frühstück auf einer Karte von der näheren Umgebung, wie wir die Adresse außerhalb von Cappenberg erreichten. Nel spendierte Corrie Taschengeld für Souvenirs und erteilte ihr eine lange Reihe von Instruktionen. Um zehn fuhren wir schon die Wernerstraße entlang durch die hügelige, grüne Landschaft Westfalens. Wir überquerten eine breitere Straße und die Gegend wurde allmählich dichter bewaldet.
»Hier rechts ab«, sagte Nel.
Wir bogen in eine schmale Teerstraße ein, an der zwei, drei vereinzelte Häuser standen. Nachdem wir das letzte hinter uns gelassen hatten, endete der Asphalt und ein unbefestigter Weg führte weiter bis in den Wald hinein. Eine Art Försterhaus lag im Schatten hoher Laubbäume. Das Licht hatte den dunkelgelben Ton von Moos und Herbst. Es schien ein friedlicher Ort zu sein.
Der kleine Renault Leonoors war nirgendwo zu sehen. In einem offenen Schuppen neben dem Haus stand ein alter deutscher Bundeswehrjeep inmitten von wucherndem Grün und auf dem mit Unkraut bewachsenen Platz davor ein neu aussehender Honda mit niederländischem Kennzeichen.
»Wenn das ihr Rechtsanwalt ist, müssen wir doppelt so heftig schleimen«, murmelte Nel.
»Jeder würde bei einer Million Euro in die Knie gehen.«
In einem Zwinger fingen Jagdhunde an zu bellen. Ein alter Mann kam zur Hintertür heraus und
Weitere Kostenlose Bücher