Charlottes Traumpferd | Gefahr auf dem Reiterhof
war ich mit Won Da Pie losgaloppiert und hatte Hilfe geholt. Abends waren Nicolas und Véronique, die sich glücklicherweise nicht schlimm verletzt hatte, zu uns gekommen, um sich bei mir zu bedanken. Sie hatten meinen Eltern angeboten, Won Da Pie an uns zu verkaufen, und zu meiner völligen Verblüffung hatten meine Eltern zugestimmt.
So war es gekommen, dass dieses wunderbare Pferd nun mir gehörte. Am kommenden Montagmorgen würde Won Da Pie in Nantes auf den Lkw einer Pferdespedition verladen, um die Reise nach Deutschland anzutreten! Nicolas hatte ausgerechnet, dass die Fahrt ungefähr dreißig Stunden dauern würde. Spätestens am Dienstag also würde mein Pferd bei mir sein. Und damit würde sich mein ganzes Leben vollkommen verändern! Ich konnte jeden Tag reiten und würde nicht mehr auf eine einzige Reitstunde in der Woche auf einem Schulpferd angewiesen sein.
Auf der langen Fahrt von Noirmoutier hatte ich mir immer wieder ausgemalt, was die anderen im Reitstall für Gesichter machen würden! Simon, Dani, Annika und Susanne, die zu den Älteren im Reitstall gehörten und uns Jüngere entweder wie Luft oder wie ihre Sklaven behandelten, würden zweifellos vor Neid platzen. Bis jetzt war mir gar nicht so recht bewusst geworden, was es wirklich bedeutete, ein eigenes Pferd zu besitzen, doch nun verschlug mir die Aussicht auf die zukünftigen Privilegien fast den Atem.
Montags, wenn für die Schulpferde Stehtag war, konnte ich reiten. Ich musste nicht länger meinen Putzkasten mit nach Hause nehmen, denn mir stand ein Schließfach hinter dem Umkleideraum zu. Wenn ich wollte, konnte ich auf dem Platz reiten oder ins Gelände gehen, und ich konnte jede Reitstunde mitreiten – wie ich gerade Lust hatte. Meine Freude über diese Aussichten war schließlich stärker als meine Enttäuschung.
Auf dem Reitplatz war eine Menge los. Herr Kessler gab Reitstunde, Frau Schlichte und Ralf ritten auf der anderen Hälfte des großen Platzes. Merle longierte auf dem oberen Zirkel ihr Pflegepferd Obermaat. Es war ein vertrauter Anblick, und dennoch hatte ich das Gefühl, hier fremd zu sein. Ich hatte die letzten Wochen in einer gänzlich anderen Welt verbracht und plötzlich vermisste ich Nicolas und Véronique, Sophie, Rémy und … Thierry. Immer wieder musste ich an ihn denken, an seine blauen Augen und sein Grinsen, das zuletzt gar nicht mehr spöttisch, sondern richtig nett gewesen war. Vier Wochen lang hatte er mich geärgert und sich über mich lustig gemacht, aber ich hatte mich von ihm nicht einschüchtern lassen. Und vorgestern, als ich mich von allen im Club verabschiedet hatte, da war er mir bis zum Auto nachgelaufen, er hatte mich völlig unverhofft umarmt und mir sogar eine Visitenkarte mit seiner Telefonnummer und seiner E-Mail-Adresse gegeben. Beim Gedanken daran flatterte ein Schwarm Schmetterlinge durch meinen Bauch. Wie schade, dass er nicht hier sein konnte! Ob es wohl von ihm ernst gemeint war, als er gesagt hatte, ich solle ihn in Paris besuchen?
Ich hatte das Ende der Auffahrt erreicht und holte tiefLuft. Was, wenn ich nun nicht mehr Doros beste Freundin sein würde? Wem konnte ich dann von meinen Erlebnissen auf Noirmoutier erzählen, von den Ausritten, meinem abenteuerlichen Ritt durch das Gewitter und von … Thierry?
Vor dem Stall waren ein paar Pferde angebunden, die ich sofort erkannte. Vicky, Quick und Barbados. Doch ein Pferd war mir gänzlich unbekannt. Das musste Corsario sein. Und tatsächlich: Doro und Inga waren damit beschäftigt, den Schimmel zu putzen.
»Lotte!«
Doro ließ Kardätsche und Striegel fallen, als sie mich erblickte, und lief mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ihre braunen Locken flogen um ihr strahlendes Gesicht, sie umarmte mich herzlich. Obwohl ich mich eben noch über sie geärgert hatte, freute ich mich doch ehrlich, sie wiederzusehen. In den vergangenen Wochen auf Noirmoutier hatte ich sie häufig vermisst. Mit ihr zusammen hätte vieles noch mehr Spaß gemacht.
»Hallo, Inga!«, rief ich mit gespielter Arglosigkeit dem Mädchen zu, das ich auch immer für meine Freundin gehalten hatte. Nur zögernd, aber mit einem unverhohlenen Triumph in den Augen, kam sie auf mich zu. Ihr linker Arm steckte noch immer in einem Gips. In der ersten Springstunde des Reitabzeichenlehrgangs war sie gestürzt und hatte sich den Arm gebrochen, das hatte Doro mir in ihrem Brief verraten.
»Hey, Lotte«, antwortete Inga.
»Wie war’s in Frankreich?«, erkundigte Doro sich.
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